Circulus Finalis - Der letzte Kreis
blassgelben Waggons mit dem in Würde gealterten, geriffelten Holzfußboden, den nackten Glühbirnen und den zerkratzten Schildern aus Metall. Für jemand, der sich den Dingen so merkwürdig entrückt fühlte wie ich, war alles, was eine Verbindung über einen selbst hinaus andeutete, von Wert. Die quietschenden Wagen, die dem kurvigen Verlauf der Schienenstränge mit unverminderter Geschwindigkeit und leichtem Rucken folgten, waren so ein Bindeglied, das über meine eigene Zeit in der Stadt hinaus deutete, und sie waren wie nichts anderes geeignet als Aussichtspunkt, um das Treiben der äußeren Welt zu beobachten. Der Rhythmus von Fahrt und Halt, ihre begrenzte Geschwindigkeit gewährte der Wahrnehmung Zeit und hielten dabei beständig das Versprechen des Wechsels. Trauben von Menschen, Ströme von Menschen zogen vorbei, hinter regennassen Scheiben nur mehr ein Muster der Bewegung wie das eines Fischschwarms im Ozean. Plakate, Leuchtreklamen, Lichtzeichen, Schilder, ein greller Wettbewerb von Botschaften, die doch gleich wieder vergessen waren.
Manchmal zog es mich zur Universitä t mit ihren Betonbauten, von einer diffusen Erwartung getrieben. Dort angekommen empfand ich mich zurecht als Fremdkörper und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Doch traf ich dann jemanden, dann fühlte ich mich schon nach kurzer Zeit wieder unwohl und verabschiedete mich unter einem Vorwand.
Meistens blieb ich am Hauptbahnhof und suchte die nahe Zentralbibliothek auf. Hier hatte ich viele Stunden zugebracht, die wenigsten davon mit fachlicher Recherche befasst. Zudem gab es mehrere ausgezeichnete Konzertflügel, die man – wenn man eine zweckgemäße Nutzung glaubhaft machen konnte – stundenweise gegen geringe Gebühr benutzen konnte. Eine Bibliothekarin mit engelsgleichem Gesicht und verhalten fröhlichem Lächeln reichte mir den Schlüssel mit ihren conterganbedingt verkürzten Armen, so wie schon unzählige Male zuvor. Dann schloss sich die schalldichte Tür hinter mir.
Am Klavier hatte ich nie viel erreicht, als Kind behagte mir der starre Ablauf des Unterrichts nicht. Aufgaben, die man sich nicht aussuchte, gab es schon in der Schule genug. Nur wenige der vorgegeben Stü cke gefielen mir, meistens waren es Sonatinen, die vielleicht gut für die Finger, aber in Anmutung und Charakter nahezu austauschbar waren. Und ein gerade frisch angeschafftes Notenheft umfasste zwanzig, dreißig oder mehr dieser Stücke. Wofür die Mühe, wenn man sich am Ergebnis nicht freuen kann? Und darauf nur das nächste Stück Arbeit wartet? Denn das war es in erster Linie für mich.
Gefiel mir etwas wirklich – ein Bach-Menuett, ein Sonatensatz von Beethoven, etwas von Debussy, Grieg, Nyman, ganz egal – dann konnte ich stundenlang üben und mich konzentrieren. Und jedes Mal, wenn der letzte Ton des Stückes ausklang, war mir, als ginge etwas für immer dahin.
Viel war mit dieser punktuellen, sporadischen Begeisterung nicht zu erreichen, aber eines hatte ich doch geschafft: Ich konnte auf mäßigem Niveau improvisieren. Die Finger erkannten intuitiv Verwandtschaft zwischen den Akkorden, Spannungsverhältnisse, und wenn sie danebengriffen, war es auch recht: Etwas Neues konnte daraus entstehen. Der Ton eines Klaviers, nur eine einzelne Saite, ist schon für sich genommen unermesslich dicht und reich an Charakter wie bei kaum einem anderen Instrument, das Violoncello vielleicht ausgenommen. Es war nicht virtuos, was ich spielte, aber es reichte, dass ich darin versank. Meistens begann ich mit ein paar mehr oder weniger bekannten Stücken, sozusagen als Alibi, falls doch jemand an der Tür lauschen sollte: Ja, hier wurde ernsthaft geübt. Mit Stücken, die mir leicht fielen und die für immer irgendwo im der Motorik gewidmeten Teil meines Gehirns gespeichert waren. Dann begab ich mich in andere Bereiche. Wenn ich nach Ablauf einer Stunde der Bibliothekarin den Schlüssel mit dem Plastikhänger vorsichtig zurückreichte, lächelte sie, als wisse sie genau, wie ich die Zeit genutzt hatte. Ein wenig verschwörerisch.
7
Lange genug habe ich mich davor gedrückt. Ich mag nicht, muss aber doch von ihr schreiben, möchte es gerne hinauszögern, oder schon hinter mir haben: Marie.
Muss ich wirklich? Ihre Rolle in dieser Geschichte ist begrenzt. Doch komme ich nicht um sie herum, wenn es gilt, zu verstehen, was sich ereignet hat, oder besser: in welchem Zustand ich mich befand, so dass es sich ereignen konnte. Vielleicht hä tte ich unter anderen
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