Circulus Finalis - Der letzte Kreis
die verunsichert dastanden; so hatten wir uns unseren psychisch labilen Patienten nicht vorgestellt. Warum man ihn nicht mit dem Flugzeug zurückschickte, war verwunderlich, und hinter der drahtverstärkten Glasscheibe des Stationszimmers bemühte ich mich um eine Auskunft vom diensthabenden Arzt. Der zuckte nur mit den Schultern und erfreute mich mit einem für seine Verhältnisse wahrscheinlich langsamen Redeschwall, dem ich immerhin zwei für mich verständliche Worte entnehmen konnte: Attempte de suicide . Zum Abschied überraschte er mit einem breiten Lächeln und einem kurzen englischen Satz: „Be careful!“
Die Fenster des Patientenraumes hinten im Auto bestanden größtenteils aus Milchglas; so zogen Provence und Dauphiné, später dann Lyon bis auf einen schmalen Streifen am oberen Rand reduziert vorbei. Für das erste Stück saß ich hinten bei unserem Patienten, der eine Ausgabe des Spiegel aus seiner Reisetasche zog, typische Urlaubslektüre vermutlich. Nach der langatmigen Anfahrt neben Dommel war ich erst mal froh über die Stille. Nach einer Weile legte der Mann die Zeitschrift weg und sagte entschuldigend, das Schaukeln des Fahrzeugs bekomme ihm nicht gut. Wieder schwiegen wir.
Unvermittelt wollte er wissen, wann wir von unserer Fahrt erfahren hätten. Aha. So kurzfristig. „Sie hatten sich Ihren Urlaub auch anders vorgestellt, nehme ich an“, entgegnete ich, so als handele es sich um einen Beinbruch. Er blickte auf.
Unser Fahrgast war von Beruf Abfallentsorgungsdezernent. Verheiratet, eine Tochter, die bereits seit einigen Jahren allein in den Urlaub fuhr. „ Die große Freiheit für uns, Sie wissen schon“, sagte er; ich wusste es eigentlich nicht. „Aber was tun damit? Meine Frau, sie wollte schon seit Jahren nach Monaco, nach Nizza, nach Cannes reisen. Wenn sie diese Namen aussprach, tat sie es ganz langsam und betont. Um ehrlich zu sein, es begann schon, mir auf die Nerven zu gehen. So wie andere verliebt sind in die Namen phantastischer Orte, je vager, desto besser: Shangri La, Ultima Thule. Fahren wir halt hin, dachte ich mir, dann wird sie merken, dass das auch nur Städte sind, hübsche Städte vielleicht, aber trotzdem. Im Beruf habe ich es mit Müll zu tun. Da lernt man, die Zivilisation und ihre Errungenschaften von zwei Seiten zu sehen.“
Er blickte ü ber den schmalen Fensterstreifen hinaus in den verhangenen Himmel und sagte lange nichts. Ich vermutete schon, dass er sich weiter nicht offenbaren wollte, doch nach einer Weile fuhr er fort.
„Es ging ihr wohl auch nicht um die Orte, es ging um die Menschen dort. Dazuzugehören, für ein paar Wochen. Zumindest von Ferne, durch das Münzfernrohr an einem Aussichtspunkt, nicht unterscheidbar zu sein von denen, die hier glitzern, an den sonnigen Gestaden des Lebens sozusagen.“
Er sprach anders, als ich es von einem Mü lldezernenten erwartet hätte.
„ Es gab einen Moment, da fanden wir uns wieder im Hintergrund eines Fernsehinterviews, und ich merkte, wie sich der Gang meiner Frau änderte, wie sie förmlich wuchs und etwas auszustrahlen begann, das ich kannte, aber lange nicht mehr wahrgenommen hatte. So als gelte die Aufmerksamkeit der Journalisten ihr, oder als könnte sie zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt ihr gehören. Doch im nächsten Augenblick scheuchte ein Techniker mit übertrieben großen Kopfhörern uns energisch weiter, ein paar Wortbrocken uns vor die Füße speiend, woraufhin meine Frau reflexhaft das kleine Reiselexikon zückte: Deutsch – Französisch, Französisch – Deutsch, mit strapazierbarem Einband, abwaschbar, nicht verrottend.“ Er lächelte traurig.
„ Dann begann das Nörgeln. Nicht ganz neu, das, aber mit einer ungewohnten Intensität. Der Höhepunkt, das Silvesterdiner, nur mehr eine Pflichtübung. Unzufriedenheit ist ein langsam wirkendes Gift. Es füllt die Poren.“
Unser Patient sah sich einem geduldig zustimmenden Zuhö rer gegenüber, dem diese Geschichte nur eine weitere Bestätigung für die Überzeugung lieferte, dass Reisen im Grunde nutzlos waren und man immer nur der eigenen Sehnsucht, den eigenen Trug- und Traumbildern hinterherfuhr. Wer weit genug entfernt ist von dem, was er eigentlich will, kann auf die Idee kommen, eine Reise, gleich in welche Richtung, müsse ihn seinen Zielen näher bringen.
Spä ter erzählte er von seiner Abneigung gegen jede Verschwendung, die man vielleicht hätte für beruflich bedingt und unvermeidbar halten können; doch waren seine
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