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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
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aussichtsloses Unterfangen. Die Haut der Frau blieb blau, ihre Züge waren in der Verzerrung des Schmerzes erstarrt, die Augen aufgerissen. Der reine Sauerstoff, den Natalia schnell vorbereitet hatte, gelangte nicht in den Kreislauf; selbst, als Härting Erfolg hatte und trotz der Enge des Krankenwagens, der für umfangreiche Behandlungen nicht gebaut war, einen Tubus in die Luftröhre einführen konnte. Kurze Zeit später trafen Notarzt und Rettungswagen ein, der Parkplatz verfügte glücklicherweise über eine eigene Versorgungszufahrt. Gemeinsam betteten wir die Patientin um zu den Kollegen ins Auto. Für uns drei gab es nicht mehr viel zu tun. Nach kurzer Zeit brach der Arzt die Reanimation ab. „Vermutlich eine massive Lungenembolie“, stellte er fest und zuckte mit den Schultern.

    Es war ein merkwürdiges Gefühl, umzukehren, mit leerer Trage. Wir reinigten das Auto gründlich, auch wenn das formal nicht erforderlich war. Möglicherweise, um den Übergang für uns selbst erträglicher zu machen. Ich bot Natalia an, mich auf der Rückfahrt an ihrer Stelle in den Patientenraum zu setzen, denn vorne gab es nur zwei Sitze. Aber sie lehnte ab, und ich konnte keine Gefühlsregung in ihrem leicht nebligen Blick erkennen.
    „ Falls es dich interessiert“, sagte Härting, als wir wieder nebeneinander im Auto saßen. „Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, hat sie noch etwas gesagt.“ Er sah mich fast unbeteiligt an mit seinen ruhigen, grauen Augen, die kaum jemals zwinkerten, oder, wer weiß, so schnell, dass man es nicht wahrnahm. Mir wurde heiß. Über dem Geschehen hatte ich mein Gespräch mit Siad, diese ganze unselige Erfindung vergessen. Alles kam mir in diesem Moment so lächerlich vor, schäbig auch, eine Verschwendung von Zeit und Energie, an allem vorbei, was wichtig war. Ohne weiter zu überlegen, schüttelte ich den Kopf. „Also diese Geschichte – es ist mir unangenehm…“
    „ Ja, ich weiß. Aber hör zu, es war so -“
    Er hatte mich schnell und keinen Widerspruc h duldend unterbrochen und seine Hand dabei auf meinen Unterarm gelegt, eine für ihn ganz und gar untypische Geste. Als er fortfuhr, sprach er langsam und nachdrücklich. Es war mir danach, die Ohren zuzuhalten, aber ich bewegte mich nicht. Seine Berührung war mir unangenehm.
    „ Hör zu: Kirschen hüten ihre Geheimnisse. Genau so. Es war nicht leicht zu verstehen, aber ich bin mir sicher. Als ob etwas Anderes aus ihr spräche. Ganz anders als das Geschwätz zuvor, du hast es ja erlebt.“ Unter seiner Selbstbeherrschung meinte ich, einen Eifer zu erkennen, der mir neu war an ihm. Er zog einen Notizblock aus der Tasche und notierte die Worte. Riss den Zettel ab und gab ihn mir. Während er sprach, hielt er den Kopf zur Seite gedreht, obwohl es dort nichts zu sehen gab.

    „Es ist vielleicht nur Zufall; niemand kann davon wissen. Ganz bestimmt nicht diese Frau. Am Heiligabend 1965, mit neun Jahren, wollte ich unbedingt allein den Weihnachtsbaum schmücken, obwohl es mir verboten war. Dabei zerbrach ich ein Erbstück aus Silber. Wahrscheinlich hätte es sich reparieren lassen. Meine Eltern waren nicht eigentlich streng, aber in unserem Haus gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Perfektion. Ich vergrub die Bruchstücke, und als der Schmuck vermisst wurde, blieb als einzige Vermutung, dass bei einem Einbruch ein paar Monate zuvor gerade dieses eine Stück auch gestohlen worden sei. Bald glaubte ich die Geschichte fast selbst.“
    Er sah mich an.
    „Ich hatte die Bruchstücke unter einem Kirschbaum vergraben.“

    Darauf zu antworten erwies sich für mich als schwierig, aber zum Glück erwartete Härting keine Antwort. Einwände hätten sich leicht finden lassen: Es gab Fehlerquellen, er konnte sich verhört haben. Härtings Unterbewusstsein quälte die harmlose Unredlichkeit aus der Vergangenheit vielleicht seit Jahren - hier fand es ein Ventil. Möglicherweise war seine Erinnerung an die Geschichte nicht korrekt, und er hatte den Schmuck unter einem Birnbaum vergraben. Unwahrscheinlich, zugegeben, aber alles sehr viel wahrscheinlicher, als anzunehmen, dass die Frau in den letzten Momenten ihres Lebens auf das harmlose Verbrechen eines Schuljungen, den sie nicht kannte, und das mehr als dreißig Jahre zurücklag, anspielte. Mir schwindelte.
    Auf der anderen Seite: Was wollte ich mehr? Schließ lich hatte ich nach einer Gelegenheit gesucht, weitere Belege für den Wahrheitsgehalt der Geschichte, für die Existenz des Circulus Finalis, zu

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