Circulus Finalis - Der letzte Kreis
fabrizieren. Jetzt präsentierten sie sich bequemerweise von selbst, überzeugten womöglich den sachlichen, zurückhaltenden Härting. Ganz ohne mein Zutun.
Das war es wohl, was mich störte.
In Gedanken versunken kam ich zu Hause an. Leerte die Taschen, Härtings Zettel fiel zu Boden. Langsam hob ich ihn auf. Die Bedenken vom Vormittag waren wieder da, eigentlich war es schon fast eine Überzeugung: Dass es besser wäre, das Ganze zu beenden. Warum trotzdem die Neugier siegte, die Neugier darauf, wie es weitergehen würde, der Wunsch, weiterzuspielen – ich weiß es nicht. Härtings Geschichte ließ mich nicht kalt. Vielleicht gab es irgendwo in meinem Bewusstsein doch den winzigen Splitter eines Zweifels, ob hinter der Lüge nicht doch eine andere Wahrheit stehen konnte. Es schien mir, als könnten die letzten Worte dieser Frau nicht bedeutungsloses Gestammel sein, so als sei sie sonst sinnlos gestorben. Es war ein hochgradig irrationaler Gedanke: Ihre Worte ernst nehmen, um ihrem Tod eine Bedeutung zu geben. Ich wählte Siads Nummer, erreichte ihn aber nicht. Meine eigene Erfindung hatte in einer nicht beabsichtigten Weise begonnen, Einfluss auf mich zu nehmen.
Als ich Metz das nächste Mal sah, standen Tann, Borsberger und Wegmann um ihn herum. Ihre Stimmen waren gedämpft, Tann nickte mehrmals, schüttelte dann ungläubig den Kopf. Die Sache hatte sich schon herumgesprochen, das war klar, und Metz sorgte für ihre weitere Verbreitung. Als er mich entdeckte, winkte er kurz und zog die Hand dann schnell zurück, so als habe sie etwas Ungehöriges getan. Mir wurde klar, dass es Verschiebungen gab in der strengen Hierarchie des Vereins. Verlegen deutete Metz auf die Umstehenden.
„ Ich hoffe, du hast nichts dagegen… Ich dachte nur, je mehr Leute sich Gedanken machen, desto eher verstehen wir vielleicht die Bedeutung der Nachricht.“ In der Hand hielt er einen kopierten Zettel, DIN A4, auf dem der Geheimtext, der Schlüssel mit den Entsprechungen der Buchstaben des Geheimalphabets, die lateinische Transkription und die deutsche Übersetzung untereinander aufgelistet standen.
Ich nickte nur und sah die Kollegen der Reihe nach an. Da war etwas Schmales, wie ein e leichte Spannung der Haut um ihre Augen, ein Anflug von Ehrfurcht vielleicht, verschiedentlich auch Hoffnung, was ich, wie die meisten Hoffnungen, nicht verstand: Geld, andauerndes Glück, Traumreisen an wärmere Orte, Platzierungen in irgendwelchen Ranglisten. Nur Tanns Ausdruck wusste ich zuerst nicht zu deuten. Von dem unverschämten Lachen, der kaum verhohlenen Geringschätzung bei der Versammlung war nichts mehr zu entdecken, und es dauerte eine Weile, bis ich in seinem Blick Angst las.
Natü rlich, dass es gerade Härting gewesen war, der die letzten Worte der sterbenden Patientin bezeugte und auch noch zu deuten vermochte, kam meiner Glaubwürdigkeit sehr zugute. Aber es war mehr als das: Ihr Blick auf mich hatte sich verändert, und in einem hellsichtigen Moment erkannte ich, dass nahezu alles, was ich tun oder sagen konnte, die Geschichte befördern würde. Meine zurückgezogene Lebensweise passte gut ins Bild; plötzlich war sie nicht mehr Indiz für ein unsoziales, ungeselliges Leben, sondern für den Erwerb schwer mitteilbaren Wissens. Eigenarten, die den Kollegen bisher vielleicht fremd und merkwürdig erschienen waren: Sie adelten mich jetzt.
Lambertus besaß einen feinen Sinn für die Stimmung auf der Wache, und es konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass die eingefahrenen Gewohnheiten und Überzeugungen eine Erschütterung erfahren hatten. An einem regenverschleierten Vormittag bestellte er mich zu sich in sein Büro mit den abgestoßenen Holzmöbeln, die mich an ein Klassenzimmer denken ließen und dem großen Mann etwas von der Ausstrahlung eines Schulmeisters gaben. Mit einer gewissen Strenge und ohne Umschweife kam er gleich zur Sache: Ob ich wisse, dass meine Geschichte die Kollegen sehr beschäftige. Ich antwortete, es sei mir nicht verborgen geblieben. Er sah mich lange an. „Glaubst du denn daran?“, fragte er dann mit zusammengezogenen Brauen, sein ewiges Pendelspiel zwischen Du und Sie fortsetzend.
Ich blickte aus dem Fenster in Regen hinaus wie ein verstockter Schü ler. Ohne ihn anzusehen, sagte ich: „Ich glaube, dass Sie von der Sache wissen. Vielleicht seit Langem. Und jetzt ist es Ihnen nicht recht, dass sie sich weiter herumgesprochen hat.“
Lambertus schnaufte hö rbar. „Nein, da liegst du falsch.“ Er
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