Clancy, Tom
dann?
Eigentlich ganz einfach: Geheimdienstarbeit war ihre Berufung, und das wusste
sie - seit dem ersten Tag bei der CIA. Sie hatte einiges bewirken können, aber
man konnte nicht übersehen, dass die CIA nicht mehr war wie früher. Die
Menschen dachten jetzt anders, und der Ehrgeiz überschattete ihre Motivation.
Niemand schien sich mehr daran zu halten, »nicht zu fragen, was dein Land für
dich tut«. Noch schlimmer, die Tentakel der politischen Organisationen in der
Hauptstadt hatten sich tief in die Geheimdienste hineingefressen, und Mary Pat
fürchtete, dass diese Entwicklung sich nicht mehr umkehren ließ.
»Wie lange
wirst du weg sein?«, fragte Ed.
»Schwer zu
sagen. Vielleicht bis Mitternacht. Wenn es sehr viel länger dauert, rufe ich
dich an. Geh ruhig schon ins Bett.«
»Hast du
noch was Interessantes über die Geschichte in Georgetown gehört?«
»Nicht
viel außer dem, was schon in der Zeitung stand. Einzelner Schütze, ein Treffer
in den Kopf.«
»Ich habe
vorhin das Telefon klingeln hören ...«
»Zweimal.
Ed junior. Wollte nur Hallo sagen; er will dich morgen anrufen. Und Jack Ryan.
Er wollte wissen, wie du mit dem Buch vorankommst. Du sollst ihn mal
zurückrufen, wenn du Zeit hast. Vielleicht kriegst du ja noch ein paar Details
von ihm.«
»Kaum zu
hoffen.«
Beide Männer
schrieben gerade an Sachbüchern: Ed ein Geschichtsbuch, der ehemalige Präsident
Ryan eine Autobiografie. Mindestens einmal wöchentlich verglichen sie ihre
Erinnerungen und bedauerten sich gegenseitig.
Jack Ryans
Laufbahn, von seinen Anfangstagen bei der CIA bis zu der Tragödie, die ihn
unerwartet zum Präsidenten gemacht hatte, war mit der von Mary Pat und Ed
untrennbar verbunden. Manchmal war es wunderbar gewesen, manchmal wirklich
schrecklich.
Sie hatte den Verdacht, dass es bei Jacks und Eds wöchentlichen
Telefonkonferenzen zu neunzig Prozent um alte Kriegserinnerungen und zu zehn
Prozent um die Bücher ging. Sie hatte nichts dagegen. Beide hatten sich das
Recht dazu verdient. Eds Laufbahn kannte sie auswendig, aber sie war sich
sicher, dass Teile von Jack Ryans Karriere nur ihm selbst und einigen wenigen
anderen bekannt waren, was etwas heißen wollte, wenn man ihren Zugangslevel
bedachte. Macht nichts, tröstete
sie sich. Was wäre das Leben ohne Geheimnisse?
Mary Pat
sah auf die Uhr, stürzte den Rest Kaffee hinunter, verzog das Gesicht über den
Nachgeschmack und stand auf. Sie küsste Ed auf die Wange.
»Ich muss
mich beeilen. Fütterst du die Katze?«
»Klar,
Babe. Fahr vorsichtig.«
Mary Pat schaltete die Scheinwerfer aus, fuhr an das
Wachhäuschen heran und kurbelte ihr Fenster herunter. Ein Mann in einer blauen
Windbreaker-Jacke mit grimmigem Gesicht trat heraus. Er war zwar der einzige
sichtbare Posten, aber sie wusste, dass noch ein halbes Dutzend weiterer Augen
auf sie gerichtet war, dazu ebenso viele Überwachungskameras. Wie die gesamte
Schutztruppe des Geländes wurden auch die Torwachen von der internen Sicherheit
der CIA gestellt. Auch die einsame 9-mm-Glock-Pistole am Gürtel des Mannes
täuschte sie nicht. Unter dem Windbreaker, von seinen geübten Händen leicht zu
erreichen, befand sich ein spezielles Rückenholster mit einer Maschinenpistole.
Das
National Counterterrorism Center, bis 2004 noch mit Terrorist Threat
Integration Center bezeichnet und von seinen Angestellten Liberty Crossing genannt,
liegt in einem ruhigen Vorort von McLean im nördlichen Fairfax County,
Virginia. Der Kasten aus Glas und Beton wirkt eher von einem James-Bond-Film
inspiriert als von der notorischen CIA-Unauffälligkeit, woran Mary Pat sich
erst hatte gewöhnen müssen. Die Wände waren allerdings explosionsgesichert und
die Fenster kugelsicher; sie hielten Dauerfeuer mit dem Kaliber .50 stand.
Sollte es freilich jemals so weit kommen, dass die bösen Buben das Gebäude mit
einem schweren MG unter Feuer nahmen, hätte das Land wohl erheblich größere Probleme.
Alles in allem war es aber, trotz der etwas auffälligen sechs Stockwerke, ein
richtig netter Arbeitsplatz. Das Restaurant war Spitzenklasse, was Ed jeden
Mittwoch zu ihrem festen Mittagstermin nach Liberty Crossing lockte.
Sie hielt
der Wache ihren Ausweis hin. Der Mann las ihn sorgfältig und verglich ihn
sowohl mit ihrem Gesicht als auch mit der Zugangsberechtigung auf seinem
Klemmbrett. Es war jetzt völlig dunkel, und im Gebüsch hörte sie die Frösche
quaken.
Nach langen
zehn Sekunden nickte der Wächter, schaltete seine Taschenlampe
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