Clara
ersten Mal hatte ich echten Respekt vor ihr. Wortlos zog sie sich
hinter den Toilettenvorhang zurück. Ich begab mich in die Schleuse und holte
eine Thermoskanne aus einer der Schachteln. Dann wartete ich. Gute fünf
Minuten.
»Sie können
jetzt reinkommen«, vernahm ich leise von innen. Sie war wieder bereit, mit mir
zu sprechen.
Na schön.
Ich schob die Kanne durchs Gitter, sammelte die Schmutzwäsche auf und brachte
sie raus. Dann nahm ich in der Ausbuchtung Platz und sah Clara bei der
Reinigung des Raums zu. Sie ging sehr gründlich vor. Kümmerte sich erst um die
Oberflächen, dann um den Boden. Machte die Toilette sauber, überzog das Bett
neu, entleerte die Wasserwanne. Sie hatte ihrer Putzfrau offenbar doch größere
Aufmerksamkeit geschenkt, als ich das angenommen hatte. Oder hatte sie auch
dieses Talent hier entdeckt? Sie war eine gute drei viertel Stunde zugange, als
sie schließlich den letzten Rest Müll vor der Tür abstellte. Während dieser
Zeit hatten wir kein Wort miteinander gesprochen. Und doch herrschte so etwas
wie eine stille Übereinkunft darüber, nach getaner Arbeit damit zu beginnen.
Clara kam ans Gitter und streckte mir ihre beiden Arme entgegen. Ich stand auf
und zog die Handschellen aus meiner Jackentasche. Wir waren wieder an den Ausgangspunkt
zurückgekehrt.
3
Nachdem
alles erledigt war, setzte ich mich wieder auf den Klappsitz. Clara untersuchte
die mitgebrachten Waren und füllte etwas frisches Wasser in die Wanne. Nach der
Reinigung war es jetzt wieder fast gemütlich hier unten. Sie setzte sich an den
Tisch, trank ihren heißen Tee und bereitete sich eine warme Mahlzeit zu. Die
erste seit Wochen. Ich hatte ihr auch einige Arzneien mitgebracht, die sie mit
ihrem Getränk einnahm. Schon bald würde es ihr wieder besser gehen. Der Husten würde
verschwinden. Die Hautausschläge, die aufgrund der mangelnden Hygiene
entstanden waren, würden wieder zurückgehen. Ich hatte ihr auch einiges an Obst
besorgt, um die Mangelerscheinungen auszugleichen. Nur mit warmem Wasser konnte
ich nicht dienen. Obgleich sie sich garantiert nach einer ausgiebigen Dusche
sehnte. Zumindest konnte sie sich jetzt wieder um ihr schönes Haar kümmern.
Clara brach als Erste das Schweigen. Mit fester Stimme wandte sie sich an mich.
»Sie haben
mich einmal gefragt, ob ich an Gott glaube. Ich habe das damals verneint.
Mittlerweile bin ich aber anderer Meinung .« Ich zog
die Augenbrauen hoch. Gott? Hatte ich sie etwa auch zu Gott bekehrt? Ohne eine
Erwiderung abzuwarten, sprach sie weiter. »Denn wenn es Gott gibt, wird er auf
meiner Seite sein. Und er wird Sie für das hier verdammen. Für das, was Sie mir
und meiner Familie angetan haben. Was Sie meinem Vater angetan haben .« Ich sah sie nachdenklich an, während sie bedächtig in dem
kleinen Kochtopf rührte.
»Gott ist
kein Rächer«, begann ich. »Rache ist eine rein menschliche Schwäche. Eine
Schwäche, die auch mich heimgesucht hat. Das gebe ich gerne zu. Aber Gott wird
uns nicht an unseren Unzulänglichkeiten messen. Er wird uns daran messen, wie
sehr wir für ihn, für uns und für unsere Nächsten eingestanden sind. Und wie
wir unsere Plagen bewältigt haben.«
»Bezeichnen
Sie den Mord an meinen Vater als Unzulänglichkeit ?« Clara war fassungslos. »Ist Ihnen ein Menschenleben so wenig wert? Mein Vater,
meine Mutter, ich. Sind wir alle bloß Unzulänglichkeiten? Glauben Sie
ernsthaft, dafür nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden? Sowohl hier als auch
vor einer höheren Instanz?« Ja, Clara hatte sich während der Dunkelheit ihre
Gedanken gemacht. Nach Antworten gesucht. Nach Antworten, die wiederum neue
Fragen aufgeworfen hatten. Aber so war es immer. Die Not, der persönliche
Untergang machte gläubige Menschen.
»Ich bin
nicht hierhergekommen , um meine Schuld mit Ihnen zu
besprechen. Ich erkenne meine Schuld durchaus alleine. Es gibt viele Gleichnisse
über die Schuld. Wie wär’s damit: ›Der ohne Schuld ist, werfe den ersten
Stein.‹ Aber es geht hier nicht um Schuld. Oder Sühne. Denken Sie nicht immer
in Schubladen. Versuchen Sie, neben Schwarz und Weiß auch andere Farben zu
erkennen. Aber bitte, wenn Sie unbedingt wollen. Ja, ich habe den Tod Ihres
Vaters bewusst in Kauf genommen. Und ich werde auch den Ihrer Mutter in Kauf
nehmen, wenn der Tag kommen sollte .« Clara erstarrte.
Dann ließ sie den Löffel fallen. Völlig geschockt starrte sie mich an. Unfähig,
etwas zu sagen.
4
Clara war
langsam auf mich
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