Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
warm in Parsefalls Jacke. Sie war in einem Kattunbeutel gefangen, klemmte flachgedrückt zwischen zwei Stoffschichten. Sie lauschte auf Parsefalls Herzschlag, als er das Haus wieder betrat. Es schlug schneller, während er die Prunktreppe hinaufstieg. Kehr um!, wollte sie schreien, doch sie brachte die Zähne nicht auseinander, und falls Parsefall ihre Warnung spürte, beherzigte er sie nicht.
»Kommt herein«, forderte Cassandra die beiden Kinder auf. Ihr sonst so scharfer Ton war einer samtigen Altstimme gewichen. »Kommt ans Feuer und wärmt euch auf! Ihr müsst ja ganz durchgefroren sein.«
Clara bezweifelte das. Selbst durch die Stoffschichten spürte sie die höllische Hitze, die in dem Raum herrschte. Parsefall erging es vermutlich ähnlich, denn er nestelte an den Knöpfen seiner Jacke. Dann klemmte er Clara unter den Arm und ließ die Jacke auf den Boden fallen. Sie spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er hatte tatsächlich den Mut, die Hexe anzuklagen: »Sie haben uns mit einem Zauber belegt!«
»Das stimmt«, gestand Cassandra. »Ich wollte nicht, dass ihr weggeht.«
Jetzt übernahm Lizzie Rose: »Ich sehe nicht, mit welchem Recht Sie uns hier festhalten. Warum sollten wir nicht gehen dürfen, wenn wir das wollen?«
»Weil ich es nicht wünsche. Und weil es nicht zu eurem Besten wäre.« Clara hörte das Rascheln von seidenen Röcken: Cassandra kam näher. »Du magst mich verabscheuen, mein Kind, aber du bist bei mir sicherer als allein da draußen in der bösen Welt. Hattet ihr es hier nicht behaglich und warm? Habe ich euch nicht Schutz und gutes Essen geboten? Ich will nur für euch sorgen, und schon in Kürze werdet ihr alles erben, was ich besitze.« Es raschelte erneut. »Junge, was ist in dem Beutel, den du da hast? Clara?« Ihr Ton war schärfer.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«, knurrte Parsefall.
»Woher wissen Sie von Clara?«, fragte Lizzie Rose.
Cassandra seufzte. »Ich weiß von Clara, seit sie von Gaspare Grisini, dieser Plage in Menschengestalt, entführt wurde. Ich weiß auch, dass ihr heute Nacht vor ihm flüchten wolltet. Was ich allerdings nicht weiß, ist, warum. Erzählt mir, warum ihr euch vor ihm fürchtet, und ich beschütze euch.«
Es herrschte einen Moment lang Stille. Erzählt ihr nichts!, dachte Clara, aber Lizzie Rose antwortete bereits: »Grisini will Parsefall zum Dieb machen. Er ist mitten in der Nacht in Parsefalls Zimmer gekommen und hat ihm gedroht, er würde ihm etwas antun, wenn er Sie nicht bestiehlt.«
»Aha«, sagte Cassandra. »Aber natürlich, ich hätte es wissen müssen …« Sie unterbrach sich. »Wie dem auch sei. Grisini ist in meiner Gewalt, und ich sorge dafür, dass er euch nie mehr wehtut. Ich werde ihn vor euren Augen bestrafen, damit ihr seht, dass ich eure Freundin bin.«
Sie klang ganz nahe. Auf einmal machte Parsefall einen hastigen Schritt zurück, doch nicht schnell genug: Clara spürte, wie die Hexe sich den Puppenbeutel schnappte. Cassandra zerriss den schlaffen Kattunstoff und befreite Clara aus ihrem Kokon. Das grelle Licht brannte ihr in den Augen. Das Zimmer der Hexe war ganz in Scharlachrot und Gold ausgekleidet und erstrahlte im Schein des Kaminfeuers und der Kerzen.
»Da ist sie ja!«, rief Cassandra lebhaft. »Keine Angst, ich tue ihr nichts. Ich will nur, dass sie zusehen kann.« Sie rauschte zum Fenster und hängte Claras Spielkreuz über die Vorhangstange.
Das war ein hervorragender Aussichtspunkt. Clara konnte den gesamten Raum überblicken. Dort befand sich das zerwühlte Bett, auf dem Ruby wie eine Sphinx thronte, da drüben standen die beiden anderen Kinder in ihren zerlumpten, unordentlichen Kleidern. Im Vergleich dazu war Cassandra eine prachtvolle Erscheinung: Sie hatte ihr Haar mit einer juwelenbesetzten Nadel hochgesteckt; ihr aufgedunsener Körper und die wogende gelbe Robe verliehen ihr etwas Monströses. Sie war eine Pyramide aus Feuer mit dem Kopf einer Menschenfresserin.
Die Tür schwang auf und Grisini trat ein.
Sein Aufzug war kurios: Er trug seinen zerschlissenen Gehrock, ein Paar Kniehosen aus Satin und sein Nachthemd, dass er vorne, aber nicht hinten in den Hosenbund gestopft hatte. Bei seinem Anblick erstarrte Lizzie Rose. Parsefalls Miene wurde ausdruckslos und er bohrte die Hände in die Taschen.
Cassandra streckte den Arm aus und deutete auf den Boden. Grisini verneigte sich, jedoch nicht tief genug. Cassandra blickte ihn finster an, bis er auf ein Knie sank. Er legte die Hand an sein Herz.
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