Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Turmzimmer.
Sie fand die Tür unverschlossen vor und trat ein. Die Streichhölzer lagen im obersten Schubfach des hohen Schranks. Cassandras Hände zitterten ein wenig, als sie die Kerzen in den Wandhaltern entzündete. Sie hatte den Turm seit der Ankunft der Kinder nicht mehr betreten und konstatierte mit leichtem Erstaunen das Durcheinander, das Parsefall angerichtet hatte. Sein Zeltunterschlupf war ihr im Weg. Cassandra stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Tisch und schob ihn an die Wand, während sie mit den Füßen Parsefalls Kissen wegstieß. Danach zerrte sie die Decken und das Bärenfell beiseite. Das mühsame Unterfangen erboste sie.
Anschließend begab sie sich abermals zum Schrank und holte einen Dolch mit Elfenbeingriff heraus. Mit einer geübten Handbewegung schlitzte sie sich den Arm auf. In der klaffenden Wunde glänzte die Fettschicht unter ihrer Haut wie Silber. Nach einigen Sekunden begann Blut hervorzuquellen: erst träge, schließlich schneller. Cassandra ließ es auf die Messerklinge tropfen, holte dann den Phönixstein hervor und drehte ihn zwischen den Fingern, bis er völlig mit Blut benetzt war.
Cassandra setzte den Stein zurück in das Medaillon. Sie bückte sich und zog mit der Klinge des Dolchs die Linien auf dem Boden nach. Sie schlurfte hin und her, dem Labyrinth folgend, und bewirkte den Zauber. Sobald sie damit fertig war, legte sie ihre Finger um das Medaillon und schloss die Augen.
»Clara Wintermute!«
Sogleich erschien klar umrissen das Gesicht des Mädchens. »Warum verlassen sie mich?«, fauchte Cassandra laut. »Wie können sie es wagen? Was hat sie dazu veranlasst? Antworte!«
Ein rebellischer Ausdruck lag auf Claras Gesicht. Ihr Mund verzog sich zu einer störrischen Linie. Sie wehrte sich dagegen, etwas preiszugeben. Aber der Macht der Hexe war sie nicht gewachsen und letztlich öffnete Clara den Mund. Ihre Stimme war kaum zu hören. Cassandra erfasste nur ein einziges Wort: Grisini. Das Gesicht des Mädchens verblasste wie ein Wasserfarbenbild, das man verwischte.
Die Hexe stieß einen Wutschrei aus. Grisini! Was war sie doch für eine Närrin, dass sie ihn vergessen hatte. Warum bloß hatte sie ihm erlaubt, im Torhaus zu bleiben? Warum hatte sie nicht vorhergesehen, dass er sich an die Kinder heranmachen würde? Cassandra umfasste erneut das goldene Medaillon. Tödlicher Hass schwang in ihrer Stimme: »Gaspare Grisini!«
Sie sah ihn, und er schlief. Er wirkte gebrechlich und friedvoll: ein alter Mann, der die Behaglichkeit eines weiches Betts genoss.
»Gaspare!«, blaffte sie, und der Puppenmeister schlug die Augen auf.
Plötzlich hatte Cassandra einen Geistesblitz. Sie würde ihn bestrafen und gleichzeitig benutzen. Sie würde – wie nannte Grisini das gleich? – zwei Tauben auf einmal fangen. Bei dem Gedanken an ihr Vorhaben verzog sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln, das ihre gelben Zähne entblößte: Jetzt würde sie der Meister sein und Grisini die Puppe.
»Parsefall, irgendwas stimmt nicht«, sagte Lizzie Rose, den Tränen nahe.
Parsefall war zu erschöpft, um zu antworten. Ihm kam es so vor, als würden sie schon seit Stunden kreuz und quer über die Rasenfläche laufen. Er hatte eiskalte Füße und klapperte mit den Zähnen. Es hatte aufgehört, zu schneien. Der Mond glitt hinter einer Wolke hervor und tauchte die zertrampelte Schneefläche in trübes Licht.
»Das sind unsere Fußabdrücke«, stellte Lizzie Rose fest. »Wir sind die ganze Zeit im Kreis gelaufen.«
Parsefall starrte auf das Muster im Schnee. Es war ungewöhnlich akkurat und plötzlich wusste er, woher er es kannte. »Das is’ das Labyrinth! Vom Turmzimmer … die roten Linien, die wo da auf den Boden gemalt sind! Wir zeichnen die Linien nach mit unseren Spuren – immer wieder …«
»Das ist ein Zauber«, sagte Lizzie Rose verzweifelt. »Wir können nicht weg. Sie hat uns mit einem Bann belegt, damit wir nicht weglaufen können.«
Parsefall fragte nicht, wen Lizzie Rose mit sie meinte. Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. Wenn sie nicht aufgab, würde er es auch nicht tun.
»Wir müssen umkehren«, erklärte Lizzie Rose kläglich. »Wir können so nicht weitermachen. Es ist zwecklos … und wir erfrieren hier sonst noch.«
»Wir müssen zurück«, stimmte Parsefall zu.
Und mit dumpfer Angst im Herzen durchbrachen sie das Muster des Labyrinths und schlugen den Weg zur Burg ein.
44. Kapitel
Der Puppenmeister
C lara fand es unangenehm
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