Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
entschlossen. »Und diesmal rennen wir los, sobald wir auf dem Weg zum Eingangstor sind.«
Lizzie Rose drückte kurz seine Hand. »Ganz recht. Sobald wir das Torhaus sehen, rennen wir los. Der Schnee wird unsere Schritte dämpfen.«
Parsefall hoffte, dass sie recht hatte. Er zog vorne an seiner Jacke, denn das Gewicht auf seinem Rücken zerrte am Kragen und erwürgte ihn beinahe. Er hätte gern die Knöpfe geöffnet, aber unter der Jacke trug er Clara zusammengerollt wie einen Embryo. Er durfte es nicht riskieren, dass sie ihm in den Schnee fiel.
»Hier entlang«, sagte Lizzie Rose und sie trabten langsam in Richtung Torweg.
Cassandra stand am Fenster ihres Schlafzimmers. Mit ihrer gesunden Hand umfasste sie den Feueropal. Sie war unvermittelt aus dem Schlaf geschreckt und hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte – nein, nicht nur das, sondern dass etwas fehlte, und sie konnte nicht sagen, was. Das Hausmädchen, das die ganze Nacht an ihrem Bett wachen sollte, hatte sich davongestohlen. Aber das war nicht der Rede wert, dachte Cassandra. Deshalb würde sie nicht aus dem Tiefschlaf erwachen. Sie spürte deutlich, dass sie einen gefährlichen Verlust erlitten hatte, und auf einmal wusste sie Bescheid: Die Kinder waren im Begriff, das Anwesen zu verlassen. Sie waren ihre letzte Hoffnung und sie machten sich aus dem Staub. »Geht nicht!«, krächzte sie, als ob die beiden sie hören könnten. »Bleibt! Bleibt!« Sie umklammerte den Phönixstein, bis sie Blasen an der Handfläche bekam. Der Schmerz war so übermächtig, dass sie fürchtete, sie müsse sich übergeben oder würde ohnmächtig werden. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um die Kinder mit einem Zauber zur Umkehr zu bewegen.
Ihre Hand glitt zwischen die Knöpfe ihres Nachthemds und sie presste den Stein an ihr Herz wie einen Blutegel. Dann stieß sie einen Schrei aus, nicht schwach, sondern voll grimmiger Empörung. Die Haut zwischen ihren Brüsten runzelte sich und verschrumpelte. Ein Gefühl der Taubheit folgte auf den Schmerz und schließlich gleichmäßige Wärme. Das Brennen und Pochen hatte beinahe etwas Wohliges.
Cassandras Verstand war wieder klar. Sie drückte den Stein zurück in das Medaillon und spähte aus dem Fenster. Drei kleine Gestalten hoben sich auf dem Schnee ab. Als Cassandras Blick auf sie fiel, wechselten sie die Richtung und marschierten zurück zur Burg. Selbst aus der Ferne nahm sie die Verwirrung der Kinder wahr und fast taten sie ihr leid. Aber sie durften sie nicht verlassen. Niemand durfte sie je verlassen. Sie wandte sich vom Fenster ab und machte einen taumelnden Schritt. In einem trunkenen Zickzackkurs bewegte sie sich durch das Zimmer und hielt sich immer wieder an Möbeln fest: vom Lehnstuhl zum Kaminsims, dann zum Bettpfosten, dem Frisiertisch und schließlich zu den Türknäufen. Sie riss die Türflügel auf und schwankte hinaus auf den Korridor.
Die Kerzen im Flur brannten. Cassandra lehnte sich an den Türrahmen, um Kraft zu sammeln. In der Mitte des Gangs stand ein kleiner Tisch an der Wand. Den steuerte sie an; wie ein Schiff wogte sie darauf zu und fiel dagegen. Der Kerzenständer auf dem Tischchen wackelte hin und her, die Kerze kippte aus dem Halter. Die Flamme erfasste den Ärmel ihres Nachthemds.
Cassandra starrte auf die Flamme, die aufloderte und den weißen Stoff versengte. Jetzt passierte es also. Ihr dunkles Schicksal, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte, erfüllte sich: Sie würde im Feuer sterben. Erst würde ihr Nachthemd verbrennen, dann die äußere Hautschicht und schließlich würde die glühende Qual ihren ganzen Körper erfassen. Ihr Geist fügte sich und erstarb.
Doch ihr Körper nicht. Nach einem Augenblick der Schockstarre regte er sich, entschlossen, zu kämpfen. Er warf sich zu Boden, wälzte sich auf dem Teppich wie ein Hund auf einem Stück Aas. Beide Hände schlugen auf die Flammen ein, wieder und wieder, noch lange, nachdem der letzte Funke erstickt war. Die Hexe roch Rauch und versengten Stoff.
Das Feuer war gelöscht. Sie hatte überlebt.
Cassandra verspürte das kindische Verlangen, Gott für ihre Errettung zu danken – als ob Gott sich mit ihr abgeben würde. Bei der Vorstellung musste sie ein bisschen lachen. Sie stützte sich mit den Handflächen auf dem Boden ab und scharrte so lange mit den Füßen herum, bis sie es auf alle viere geschafft hatte. Dann stand sie auf und ging mit wackligen Schritten weiter zum
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