Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
zu Mrs Pinchbeck hinüber, weil sie den Faden der Geschichte nicht verlieren wollte. »Aber haben sie ihn je wiedergefunden?«, fragte sie mit flehendem Tonfall. »Ist der kleine Junge je wieder aufgetaucht?«
»Er is’ nach Hause zurückgekommen«, sagte Mrs Pinchbeck. »Aber völlig verändert is’ er gewesen. Fast schon blöde war er, hab ich gehört. Mit Grisini hatte das alles aber nix zu tun und bald danach hab ich Mr Pinchbeck kennengelernt.« Ihre Stimme bekam einen warmen Klang, als sie zu der wohlbekannten Episode ansetzte. »Ich hab ein weißes Musselinkleid mit rosa Blüten getragen und dazu einen passenden Sonnenschirm. Und ich hab meine Haare ganz natürlich gelockt. Zwei Stunden hat es gedauert, um sie auf Papier aufzuwickeln …«
Die Tür ging auf und, umringt von einem Pulk Hunde, stolperte Parsefall herein. Pomeroy, die Bulldogge, hing sabbernd an seinem Hosenbein. Punch, der Terrier, hüpfte wie auf Sprungfedern auf und ab, während der Beagle Puck den Mops Parson anknurrte. Ruby folgte hinterdrein. Die Leine hatte sich zwischen ihren Hinterbeinen verfangen und so drehte sich der Spaniel hilflos mit einem angezogenen Bein um sich selbst.
»Oh, arme Ruby!«, rief Lizzie Rose und kam ihrem Liebling zu Hilfe.
»Ich hab Frühstück«, verkündete Parsefall freudig. »Ich hab nach Brot von gestern gefragt, aber die alte Frau in der Bäckerei hat gesagt, dass es nur frisches gibt. Sie hat gesagt, ich krieg noch ganz warmes Brot für billig, wenn ich nur die verdammten Köter aus dem Laden schaffe.«
»Wie schlau von dir, Parsefall«, sagte Lizzie Rose. »Aber du solltest dich schämen, so eine furchtbare Ausdrucksweise vor einer kultivierten Dame wie Mrs Pinchbeck zu gebrauchen.«
Parsefall blinzelte irritiert. Wie von Lizzie Rose beabsichtigt, fühlte Mrs Pinchbeck sich geschmeichelt und machte eine geziert vornehme Miene. »In der Speisekammer steht noch frisches Bratenfett«, bemerkte sie beiläufig, und Lizzie Rose klatschte in die Hände. Sie hatte ein unstillbares Verlangen nach Fleisch in jeder Form.
»Brot und Bratenfett zum Frühstück!«, rief Lizzie Rose aus. »Ich laufe schnell hinunter und setze Wasser auf für den Tee und dann veranstalten wir ein Festessen!« Sie griff unter das Sofa und schnappte sich die Ginflasche, zerrte die Bulldogge von Parsefalls Bein weg und ging die Treppe hinunter, um sich heldenhaft in Mrs Pinchbecks Speisekammer zu begeben.
Clara schlief. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so tief geschlafen, traumlos, ohne dass auch nur ein Finger oder Augenlid zuckte. Sie war leblos wie eine gepresste Blume. Wäre sie wach gewesen, hätte sie nicht sagen können, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren. Ihr Geist war leer, frei von Schuld, Angst und Trauer. Noch in der vergangenen Nacht hatte sie davon gesprochen, dass sie sich vor Kälte und Dunkelheit fürchtete, jetzt ergriffen Kälte und Dunkelheit von ihr Besitz und sie empfand keine Angst.
10. Kapitel
Die Fotografie
I n dieser Nacht hatte Parsefall einen Albtraum. Ruby alarmierte Lizzie Rose, indem sie leise winselnd an ihrem Gesicht schnüffelte. Das Mädchen hörte, wie schwer Parsefall atmete, und schlüpfte aus dem Bett. Mit der Decke um die Schultern schlich sie auf Zehenspitzen aus ihrer Kammer und kniete sich neben den schlafenden Jungen. Sie wollte ihn wecken, bevor er schrie. Grisini schätzte es gar nicht, wenn man ihn aus dem Schlaf riss.
»Parse«, wisperte sie eindringlich. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. »Parse!«
Seine Lider flatterten und er riss die Augen auf. Erst schlug er wild mit den Armen um sich, dann setzte er sich auf und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ruby versuchte, ihm winselnd das Gesicht abzulecken.
»Ich bin es nur«, flüsterte Lizzie Rose. Sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn fest an sich heran. Parsefall zitterte so heftig, dass ihr eigenes Herz schneller schlug. Sie atmete tief ein und aus, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Falls Gefühle von einem Körper auf den anderen übergehen konnten, musste sie Parsefall beeinflussen und nicht umgekehrt. »Ich bin bei dir, Parse.«
Der Junge vergrub sein Gesicht unter ihrem Arm. Sie spürte seinen warmen Atem und einige feuchte Flecken auf dem Stoff, Tränen, die er nie zugeben würde. Einmal hatte er nach einem Albtraum ein Loch in ihr Nachthemd gebissen. Lizzie Rose wiegte ihn hin und her, strich ihm über das Haar. Es war fettig und stank widerlich. Sie bemühte sich,
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