Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
reich gemacht zu werden. Es musste dankbar, nicht habgierig klingen. Und schließlich – falls Mrs Sagredo sie noch immer einladen wollte – galt es, Parsefall zu der Reise zu überreden. Er würde wohl kaum bereit sein, das Puppentheater während der Weihnachtszeit im Stich zu lassen. Erst gestern war er mit zwei Schilling, neuneinhalb Pence und der freudigen Überzeugung, die Geschäfte würden allmählich besser laufen, nach Hause zurückgekehrt.
Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss. »Ruin! Tritt dir die Stiefel ab!«, schrie der Papagei und wurde von einer nasalen Stimme angeblafft, den Schnabel zu halten. Fitzmorris Pinchbecks schwere Schritte waren aus dem Treppenhaus zu hören. Lizzie Roses Lächeln erstarb. Sie bückte sich, hob Ruby hoch und schlich auf Zehenspitzen in ihre improvisierte Schlafkammer und zog den glitzernden Vorhang hinter sich zu. Wenn sie sich nicht rührte und keinen Mucks machte, würde Mr Pinchbeck vielleicht denken, dass sie gar nicht zu Hause war und direkt ins Nebenzimmer weitergehen. Sie legte ihre Hand um Rubys Schnauze und wartete. Kaum wagte sie zu atmen.
25. Kapitel
Der Mann aus dem Publikum
C lara hing am Galgen in Parsefalls Bühnenwagen. Es war eine regnerische Woche gewesen und das Klappern der Räder ertrank in platschenden Geräuschen, weil Parsefall den Karren durch eine eiskalte Suppe aus Matsch, Stroh, Pferdemist und Urin zerren musste. Clara blieb drinnen das Schlimmste erspart, aber sie musste an die Zeiten zurückdenken, als sie in der Kutsche ihrer Mutter durch London gefahren war. Zu Fuß war sie allenfalls unterwegs gewesen, um mit ihrer Gouvernante im Park spazieren zu gehen, und falls sie eine Straße überqueren mussten, hatte Miss Cameron jemanden dafür bezahlt, einen Weg für sie sauber zu kehren. Für Parsefall hatte kein Straßenkehrer je den Besen geschwungen. Es lag auf der Hand, dass er keinen Halfpenny für so etwas übrig hatte. Parsefall verfluchte die schmutzigen Straßen, aber nur, weil er in dem Morast langsamer vorankam. Er hatte eine Vorstellung zu geben und seine Gedanken waren bei der Arbeit.
Im Laufe der vergangenen Wochen hatte Clara sich zunehmend sogar mehr auf die Vorstellungen gefreut als Parsefall. Wenn er das Spielkreuz anhob und ihre Fäden bediente, schien ihr blutloser Körper zu kribbeln und sich etwas in ihr zu regen. Beinahe gelang es ihr, sich vorzustellen, ihre Glieder würden sich aus eigenem Antrieb strecken und bewegen. Das war natürlich nicht der Fall. Aber sie fragte sich, ob es eines Tages wohl wahr würde, ob Parsefall ihr irgendwie helfen könne, die Grenze zwischen Erstarrung und Leben zu überwinden.
Mit jeder Berührung wurde die Bindung zwischen ihnen stärker. Wenn er sie an den Fäden tanzen ließ, erahnte Clara die Höhenflüge und Abgründe in Parsefalls Seele. Sie teilte seinen Hunger nach Wunder und Zauber, nach einer Welt, in der Pailletten Sterne waren und Skelette ausgelassen Possen trieben, bis sie auseinanderfielen.
Sie kannte Parsefalls Ängste und seine Schwächen. Grisinis Geist lauerte in den dunkelsten Winkeln seines Kopfes. Parsefall hasste Nebeltage, nicht nur, weil sie schlecht fürs Geschäft waren, sondern weil er fürchtete, Grisini könnte ihm im Schutz des Nebels nachstellen. Hunger war ein weiteres, aber kleineres Schreckgespenst, und begleitet wurde es von Schuldgefühlen. Parsefall war entsetzt, wie viel Geld er für Würstchen im Teigmantel und Rosinenbrötchen zu einem Penny das Stück ausgab. Er belog Lizzie Rose, was seine täglichen Einnahmen betraf, und verheimlichte ihr, dass er sich schändlicherweise etwas zu essen gekauft hatte. Ab und an holte er zwei Rosinenbrötchen und steckte eins davon in die Tasche. Doch obgleich er die feste Absicht hatte, es Lizzie Rose mitzubringen, gelang ihm das Vorhaben nie. Ehe er sich versah, hatte er die Köstlichkeit schon wieder aus der Tasche geholt und hineingebissen. Er verschlang das süße Teilchen bis auf den letzten Krümel, leckte sich den Zucker von den Fingern und verachtete sich für seine Gier. Lizzie Rose hätte kaum geglaubt, dass ihr Ziehbruder so ein empfindsames Gewissen besaß.
Clara wusste es besser. Sie erkannte Schuld, selbst wenn sie nichts weiter war als ein Schatten auf der Seele eines anderen.
An diesem unwirtlichen Dezembertag verharrte Clara gerade in einer Arabesque und hatte dem Publikum das Profil zugewandt, als ein Mann auf die Bühne zuschritt. Clara nahm ihn nur aus dem Augenwinkel
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