Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
der Geldbüchse und Gepolter. Parsefall packte zusammen.
»Haltet den Dieb!«, brüllte Dr. Wintermute, aber Parsefall spurtete schon los. Die Wagenräder ratterten platschend über das Kopfsteinpflaster. Unmöglich, er schafft es nicht, dachte Clara angsterfüllt. Er kann mit dem Wagen nicht schnell genug rennen und nie würde er das Theater einfach stehen lassen …
Ein Pferd wieherte. »Verflixt noch mal!«, polterte ein Mann.
Parsefall fiel der Länge nach hin. Männerstimmen brüllten durcheinander, eine Frau stieß einen gellenden Schrei aus.
»Ho, brr! Ruhig, brr!«, knurrte eine barsche Stimme.
Jetzt war ihr Vater zu hören. Er ermahnte alle, die Ruhe zu bewahren, und sagte: »Lassen Sie mich helfen. Ich bin Arzt.« Parsefall war blitzschnell wieder auf den Beinen und hastete, so schnell er konnte, weiter. Mit einem Arm hielt er Clara in seiner Jacke fest, mit dem anderen zog er das Puppentheater.
Er bog scharf rechts in eine Querstraße ab. Es gab ein kratzendes Geräusch. Der Wagen hing an der Ecke eines Backsteingebäudes fest. Parsefall zerrte, um ihn zu lösen. Er keuchte jetzt und Clara bemerkte, dass sein Herz doppelt so schnell schlug wie sonst. Die Spieluhr klimperte immer noch. Allmählich verlangsamte er das Tempo. Sein Keuchen wurde zu einem heftigen Schnaufen und als er schließlich stehen blieb, öffnete er seine Jacke.
Claras Kopf fiel in den Nacken und ihr starrer Blick war auf ein Paar nasser Hosen gerichtet, das an einer Wäscheleine hing. In der Nähe miaute eine Katze. Parsefall war mit ihr in einen leeren Hinterhof geflüchtet.
Er nahm Clara aus der Jacke und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Ihr Kopf kippte zur Seite, sodass ihr Ohr auf der Schulter auflag, und der eine Ellbogen zeigte nach vorn. Das linke Knie war in die falsche Richtung abgewinkelt. Parsefall runzelte die Stirn und wischte ihren verschmutzten, durchnässten Rock an seinem Jackenärmel ab, womit er weder Clara noch der Jacke einen Gefallen tat. Dann hängte er Clara an den Puppengalgen, kniete sich vor ihr auf das Pflaster und machte sich daran, ihre Fäden zu entwirren.
26. Kapitel
In dem Dr. Wintermute einen verloren geglaubten Gegenstand zurückerlangt
G risinis Junge hatte den Unfall provoziert. Bei seiner Flucht durch die Straßen hatte er den Zusammenstoß einer geschlossenen Kutsche mit einer Hansom-Droschke verursacht. Den Droschkenkutscher hatte es von seinem Sitz geschleudert, und die Frau im Wagen hörte nicht auf, hysterisch zu schluchzen. Der Unfall verhalf dem Burschen zu einem Vorteil: Er entdeckte eine Lücke im zähen Verkehr, zwängte sich mit seinem Karren entschlossen hindurch und verschwand wie ein Aal in seiner Höhle. Dr. Wintermute begriff, dass eine weitere Verfolgung aussichtslos war. Außerdem verpflichteten ihn sein Gewissen und sein Beruf dazu, jedem Verletzten beizustehen.
Schweren Herzens gab er auf.
Er half dem Kutscher wieder auf die Beine, vergewisserte sich, dass er keine Kopfverletzung hatte, und wandte sich der Frau zu. Sie war hochschwanger und in Panik. Nachdem Dr. Wintermute sie untersucht hatte, versicherte er ihr, dass es keinen Grund zur Sorge gebe. Er empfahl ihr, nach Hause zurückzukehren, ihr Korsett zu lockern und den Rest des Tages zu ruhen. Sobald sie ihm versprochen hatte, dem Rat zu folgen, widmete er sich abermals dem Kutscher, der seinen Arm an die Brust gedrückt hielt. Dr. Wintermute diagnostizierte ein verstauchtes Handgelenk und griff nach seinem eigenen Schal, um das Gelenk fest zu bandagieren.
Nachdem die Droschke davongefahren war, schleppte sich Dr. Wintermute zum Straßenrand. Er war aufgewühlt. Das Gesicht der Puppe tanzte vor seinem inneren Auge: herzförmig mit rosa Wangen und Claras Lächeln wie festgefroren auf den Lippen. Warum hatte Grisini eine Puppe angefertigt, die so aussah wie seine Tochter? Wie … und wann … und was hatte das Grauenhaftes zu bedeuten? Aus einem ersten Impuls heraus wollte er zur Polizei gehen, aber dann erschien es ihm sinnlos. Die Existenz der Puppe bewies gar nichts. Er würde einem Constable nicht erklären können, wie sehr ihn ihr Anblick ins Herz getroffen hatte.
Dr. Wintermute lief los, ohne zu wissen, wohin. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er die Abzweigung verpasst hatte, über die er nach Hause gelangt wäre. Seit Claras Verschwinden vor einigen Wochen flößte ihm das Haus am Chester Square zunehmend Furcht ein. Die Trauerstimmung war erstickend, als wären die Mauern
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