Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
nach draußen. Seine Hände suchten tastend nach Claras Beutel und lösten die Kordel, um sie herauszuholen. Endlich sah sie wieder etwas.
Sie befanden sich auf einem Platz in Pimlico. In der Mitte lag ein rechteckiger Garten, umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun. Die Häuser mit den weißen Säulen, die den Platz säumten, verströmten Wohlstand. Dieser Ort ähnelte stark dem Chester Square und in Clara stieg Heimweh auf.
Parsefall machte sich sogleich an die Arbeit. Er schob den Wagen dicht an das Eisengitter, sodass er während der Aufführung den Zaun im Rücken haben würde. Clara verstand, warum: Wenn er die Vorstellung allein gab, hatte er niemanden, der auf seine Puppen achtgab. Parsefall griff in den Wagen und holte die Trommel, die Spieluhr und eine Spielzeugtröte hervor. Er steckte sich die Tröte in den Mund, und während er die Bühne für die Vorstellung vorbereitete, stieß er eine Reihe ohrenbetäubender Töne aus. Dazwischen hörte Clara Kinderstimmen von der anderen Seite des Zauns. Im Garten spielten Kinder und Parsefall versuchte, sie herbeizulocken.
Er stellte die Galgen im rechten Winkel zur Bühne auf, band die Vorhänge seitlich fest und entrollte das Kulissenbild. Er befestigte das schwarze Tuch, hinter dem sein Kopf verborgen sein würde, und stieg auf den Wagen. Dann griff er nach der Trommel und begann, sie zu schlagen.
Clara lauschte sorgenvoll: Wer würde kommen? Es war ein nasskalter Tag und die Klänge der Tröte und der Trommel trugen nicht weit. Der kleine Theaterwagen wirkte armselig und klapprig. Aber das Glück meinte es gut mit Parsefall. Die Stimmen der Kinder wurden lauter. Sie hatten die Tröte gehört und waren ihren Klängen gefolgt. Die Galgen schwankten, als Parsefall nach einem der fantoccini griff.
Die Vorstellung begann. Clara konnte das Publikum nicht sehen, aber sie hörte plätschernde Lachsalven und Freudenjauchzer. Nach einer Viertelstunde vernahm sie ein abgehacktes, mechanisches Schnarren: Die Spieluhr wurde aufgezogen. Das war ihr Einsatz. Sie spürte, wie sie vom Galgen genommen wurde und durch die Luft schwebte. Schon landete sie im Zentrum der Bühne vor dem gemalten Kulissenbild.
Clara war verblüfft, wie viele Zuschauer sich eingefunden hatten. Eine Gouvernante mit drei Kindern, ein Kindermädchen mit einem Baby auf dem Arm, ein rotgesichtiger Geistlicher, ein Laufbursche mit einem Packen Umschläge in der Hand …
So weit, so gut – aber inmitten der respektabel wirkenden Zuschauer machte sie hie und da auch ärmliche Leute aus: einen Kaminkehrer und zwei zerlumpte Mädchen, augenscheinlich Schwestern, einen alten Mann mit schwarzen Zähnen und debilem Grinsen und dann war da noch ein Säufer mit rotem Halstuch.
Der Trunkenbold stand am dichtesten vor der Bühne, so nah, dass er sie berühren konnte, wenn er wollte. Clara bereitete sein Anblick ein mulmiges Gefühl. Der Mann war von gedrungener Statur und unrasiert. Das Puppentheater schien ihn zu verzaubern. Er hielt den Kopf schief gelegt, ließ die Hände baumeln und wippte im Takt der Musik.
Clara fürchtete sich vor dem Mann. Sie hätte gern die Augen geschlossen und die Gesichter der Menge ausgeblendet, aber ihre Augen blieben weit geöffnet und die Spieluhr klimperte. Parsefall zog an ihren Fäden.
Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und schwang ihre Arme in einem Bogen nach unten, sodass sich die Handgelenke vor dem Körper kreuzten. Einem der zerlumpten Mädchen entfuhr ein gurrender Laut der Bewunderung. Clara streckte den linken Fuß mit angespannter Spitze und hob ihre Arme zu einer Pose. Das Spielkreuz zog sie in die Höhe und sie vollführte einen schwebenden Sprung. Sie gehorchte jedem Kommando der Fäden, ihre Glieder waren so leicht wie Blumenstängel und so geschmeidig wie Wasser. Die schweigende Menge stand völlig im Bann der silberhellen Musik und der kleinen Tänzerin im weißen Kleid.
Freudige Erregung durchströmte Clara. Sie bewegte sich mit solcher Leichtigkeit und Sicherheit, dass sie sich beinahe einbildete, sie würde sich ohne fremde Hilfe bewegen. Der betrunkene Mann deutete unvermittelt mit dem Daumen auf sie und rief: »Schaut euch das an!« Wie gern hätte sie ihm zugelächelt. Ach, der Mann war … sie suchte nach dem richtigen Wort und fand es: Er war unschuldig. Er mochte derb, schmutzig und betrunken sein, aber er hatte eine ebenso große Sehnsucht danach, sich verzaubern zu lassen, wie sie an ihrem Geburtstagsfest.
Die Musik wurde langsamer. Clara
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