Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
der Umschlag schmutzig und verknittert war, konnte man die spitze Handschrift darauf noch lesen. Der Brief war an Gaspare Grisini in der Danvers Street gerichtet. Jemand hatte Eilt unter Grisinis Namen geschrieben und mit schwarzer Tinte unterstrichen.
Lizzie Rose biss sich auf die Unterlippe. Eine Lady würde nie einen Brief lesen, der nicht an sie adressiert war. Gleichwohl stand auf dem Umschlag Eilt und das Datum des Poststempels lag bereits über zwei Wochen zurück. Nach kurzem Zögern brach sie das Siegel auf und faltete den Brief auseinander. Den Umschlag ließ sie in ihre Schürzentasche gleiten.
Mein lieber Gaspare,
viele Wochen sind vergangen, seit ich von Ihnen das letzte Mal gehört habe. Wären Sie aus anderem Holz geschnitzt, würde ich mir Sorgen machen, so bin ich lediglich ungeduldig. Warum haben Sie auf meinen Brief nicht geantwortet? Mir bleibt nur noch wenig Zeit. Der Arzt sagt, dass ich den nächsten Frühling nicht mehr erleben werde.
Ich erwarte nicht, dass Sie mich bemitleiden, ebenso wenig bemitleide ich mich selbst. Ich habe ein langes Leben gelebt und mehr als meinen Anteil an den weltlichen Gütern genossen. Nichts davon kann ich nun festhalten: weder mein Vermögen noch meine Juwelen oder Strachan’s Ghyll. Deshalb bitte ich Sie, zu mir zu kommen und Ihre beiden Lehrlinge mitzubringen. Sie halten mich wahrscheinlich für eine senile alte Frau, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass mir die Kinder nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Sie haben geschrieben, dass die beiden mittellose Waisen sind. Wenn ich an sie denke, wie sie ganz auf Ihre liebevolle Obhut angewiesen sind, dann kommt mir ein verwegener Gedanke: Warum sollte ich ihnen nicht mein Vermögen hinterlassen? Ich habe kein eigen Fleisch und Blut als Erben, und die Vorstellung, die gute Fee zu spielen, gefällt mir. Ich glaube, ich würde Ihre beiden fleißigen Waisen gern reich machen. Doch bevor ich meinen Nachlass zu ihren Gunsten regle, muss ich die Kinder selbstverständlich persönlich kennenlernen, um mich zu vergewissern, dass ich sie auch mag.
Und nun zur Reise. Sie müssen in den Norden nach Westmorland kommen. Dafür nehmen Sie am Londoner Bahnhof King’s Cross zunächst die Eisenbahn nach Lancaster. Von dort aus nach Kendal und dann nach Windermere. Ich denke, Fahrkarten erster Klasse kosten etwa fünfzehn Schilling, also lege ich fünf Pfund für die Reise bei. Das sollte bei Weitem genügen. In Windermere haben Sie die Möglichkeit, beim Wirt des Black Bear eine Kutsche zu mieten. Sie können zu jeder Tages- oder Nachtzeit auf Strachan’s Ghyll eintreffen. Meine Haushälterin ist angewiesen, Zimmer für Sie und die Kinder herzurichten.
Ich bitte Sie, kommen Sie bald! Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
In tiefer Verbundenheit
Cassandra Strachan Sagredo
Lizzie Rose las den Brief zweimal, zuerst überrascht, dann mit großem Staunen. Es bestand kein Zweifel, dass mit den Waisenkindern in dem Brief sie und Parsefall gemeint waren. Die fremde Dame schien sehr reich zu sein. Sie hatte von Juwelen gesprochen, und Strachan’s Ghyll musste der wunderliche Name ihres Hauses sein. Ich glaube, ich würde Ihre beiden fleißigen Waisen gern reich machen … Lizzie Rose presste den Brief an die Brust. Es kam ihr so vor, als wäre ihr Leben ein Schauspiel. Im Theater tauchten Erbschaften immer im fünften Akt auf, wenn die Lage am ausweglosesten war. Irgendjemand starb hinter den Kulissen und gab den Weg frei zu einem glücklichen Ende.
Lizzie Rose faltete die Fünf-Pfund-Note auseinander, die ihr auf den Schoß gefallen war. Lancaster, Windermere, Westmorland … Sie wünschte, der Atlas ihres Vaters wäre nicht verkauft worden. Sie war sich nicht ganz sicher, wo Westmorland lag, aber sie glaubte, dass es fast so weit nördlich wie Schottland war. Was, wenn sie und Parsefall die weite Reise unternehmen würden, nur um letztlich abgewiesen zu werden? Cassandra Sagredo war offensichtlich eine Freundin von Grisini, aber von dem fehlte jede Spur. Würden Grisinis Mündel auch ohne ihn willkommen sein? Vielleicht sollte sie Mrs Sagredo schreiben und fragen.
Das wäre allerdings ein peinliches Schreiben. Lizzie Rose sah nicht, wie sich ihr Anliegen behutsam formulieren ließ: Sie müsste zunächst erklären, warum sie einen fremden Brief geöffnet hatte. Als Nächstes müsste sie irgendwie durchblicken lassen, dass, selbst wenn Grisini verschwunden war, sie und Parsefall nach wie vor zur Verfügung standen, um
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