Clara
Mädchen verlor die Fassung und kämpfte arg mit den Tränen. »Wer sollte denn so was tun, um Himmels willen? Ralf war immer so nett und so …«
Astrid konnte sie kaum verstehen.
»Er war einfach ein lieber Kerl und völlig. harmlos. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, ich wäre die ältere und er.«
»Wir müssen wissen, mit wem Ihr Bruder zu tun hatte«, begann Astrid, aber das Mädchen sah sie nur verwirrt an.
Harry brachte das Essen und verschwand sofort wieder nach hinten.
Wortlos wickelten sie ihr Besteck aus und fingen an zu essen.
»Okay«, meinte Astrid nach den ersten zwei Bissen.
»Ich will mal ganz anders anfangen. Als ich mich im Zimmer Ihres Bruders umgesehen habe, ist mir aufgefallen, daß er offensichtlich ziemlich religiös war. Ich meine, das große Kreuz über dem Bett, diese Heftchen.«
»Ach, die Kiste!« Sigrid Poorten hatte sich wieder so einigermaßen im Griff. »Ralf war immer schon ganz anders als ich. Sehr ruhig, fast schon lahm. Und ein totaler Spätzünder. Deshalb hat er auch nur die Hauptschule gemacht, obwohl er bestimmt nicht blöd war. Außerdem war er ziemlich schüchtern und hatte eigentlich nie richtige Freunde hier im Dorf. Na ja, und mit der Kirche, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, der war einfach. angepaßt. Hat eben alles brav mitgemacht: Kommunion, jeden Sonntag in die Kirche, und Meßdiener war er auch.« Sie schnitt ein Stück Wurst ab und schob es sich in den Mund. »Unser Pastor war jahrelang Ralfs großes Vorbild, ein Halbgott quasi, dabei ist der Typ wirklich nur ein kleiner Kacker.« Sie grinste herausfordernd.
Astrid unterdrückte ein Lachen. »Sie haben offenbar mit der Kirche nichts am Hut?«
»Nee, sowieso nicht. Auch mit dem ganzen Dorfrummel nicht. Ich hab mich vor Jahren schon abgesetzt und bin froh, wenn ich nach dem Abi hier ganz weg kann. Na, jedenfalls hat sich der Pastor den Ralf gekrallt, so vor zwei, drei Jahren, und ihn auf diese Barbarasache gebracht, und Ralf ist total darauf abgefahren.«
»Was ist das eigentlich für eine Geschichte? Ist das eine Sekte?«
»Haus Barbara? Nein, ’ne Sekte ist das nicht, obwohl ich mich frage … egal. Das ist ein Haufen religiöser Spinner. Gehören zu irgendeinem katholischen Mutterhaus oder so und versuchen hauptsächlich Jugendliche in den Schoß der Kirche zu holen. So mit Pseudoseminaren, Exerzitien, Askese und Jugendlagertricks. Ralf war hin und weg. Mann, was hab ich ackern müssen, bis der mal kapierte, was da für ein Mist abging, was das für Abzocker sind. Die kassieren nämlich ganz fein Knete für ihr hohles Gesabbel.«
»Sie haben also versucht, ihn davon abzubringen?«
»Klar. Und irgendwann hat er’s dann auch geschnallt. In letzter Zeit war der kritischer als ich. Auf jeden Fall aber hat er durch die ganze Sache endlich mal Freunde gefunden.«
Astrid kramte einen Kuli aus der Tasche.
»Ach, genau«, sagte Sigrid, »Sie wollten ja wissen, mit wem Ralf zu tun hatte. Vielleicht wundert Sie das, aber ich kann Ihnen keinen einzigen Namen nennen. Gesehen hab ich auch noch nie einen bei uns zu Hause. Aber Ralf brachte sowieso nie jemanden mit. Jedenfalls hat er bei einem von den Seminaren ein paar Leute kennengelernt, und die sind in so einem kirchlichen Jugendkreis in Grieth. Und da war mein Bruder mindestens dreimal in der Woche.«
»Und was macht dieser Jugendkreis?«
Sigrid hob die Hände. »Fragen Sie mich nicht. Die werden wohl nicht bloß beten. Ich weiß, daß Ralf mal was von sozialpsychiatrischer Hilfe erzählt hat, Betreuung von psychisch Kranken und so. Aber mich hat das alles nicht richtig interessiert.«
»Und sonst hatte Ihr Bruder keine Freunde?«
»Nein.« Ihre Lippen wurden steif. »Und ich wüßte auch niemanden, der ihn zu Tode prügeln würde.«
Astrid klappte ihren Block auf und holte ein Foto heraus. »Dieses Bild habe ich auf Ralfs Nachttisch gefunden. Kennen Sie das Mädchen?«
Sigrid nahm das Foto in die Hand und nickte nachdenklich. »Das ist Clara Albers. Die ist an meiner Schule, ein oder zwei Klassen unter mir. Ich wußte gar nicht, daß Ralf die kennt. Ach, ich glaube, die wohnt in Grieth!«
»Ob das seine Freundin ist?«
Sigrid hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich weiß es nicht. Erzählt hat er mir davon nichts.« Sie legte ihr Besteck auf den noch halbvollen Teller. »Sollen wir gehen?«
Den ganzen Weg zurück zur Oberstraße weinte sie leise. Vor der Haustür putzte sie sich die Nase und schluckte.
»Die ganze Zeit ist es gut
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