Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
Vom Netzwerk:
Nicht, weil sie Paulino Morais liebte – ihn zu betrügen hätte ihr nicht das geringste schlechte Gewissen bereitet, sie betrog ihn vor allem deshalb nicht, weil sie ihre Sicherheit schätzte. Sie kannte die Männer zu gut, um sie zu lieben. Wieder damit anfangen, nein! Wie oft hatte sie nach einer Befriedigung gesucht, die ihr immer verwehrt wurde? Sie machte es für Geld, klar, und das bekam sie, weil sie es verdiente … Wie oft war sie beklommen, entwürdigt, betrogen nach Hause gegangen! Wie oft hatte sich all das – Zimmer, Mann und Frustration – wiederholt! Der nächste Mann konnte ein anderer sein, das Zimmer ein anderes, aber die Frustration blieb, wurde nicht die Spur geringer.
    Auf der Marmorplatte der Frisierkommode lag zwischen Flakons und Tiegeln neben dem Foto von Paulino Morais der zweite Band von
Die Maias
. Sie blätterte darin, suchte die Passage, die sie mit ihrem Lippenstift angestrichen hatte, und las sie noch einmal. Dann ließ sie das Buch langsam sinken, richtete den Blick fest auf den Spiegel, in dem ihr Gesicht jetzt einen erstaunten Ausdruck zeigte, ähnlich dem ihrer Mutter, und vergegenwärtigte sich in wenigen Sekunden ihr Leben – Licht und Schatten, Farce und Tragödie, Unzufriedenheit und Täuschung.
    Es war fast halb fünf, als sie zum Gehen fertig war. Sie sah hübsch aus. Sie kleidete sich mit Geschmack, ohne zu übertreiben. Sie hatte ein graues Kostüm angezogen, das ihrem Körper die Konturen einer Skulptur mit vollkommenen Rundungen verlieh. Ein Körper, nach dem die Männer sich auf der Straße umdrehen mussten. Wunderwerk einer Schneiderin. Instinkt einer Frau, deren Körper ihr Broterwerb war.
    Sie ging die Treppe mit dem leichten Schritt hinunter, der ein lautes Knallen der Absätze auf den Treppenstufen vermeidet. Vor Silvestres Tür waren Menschen. Beide Türflügel standen offen, und der Schuster half einem jungen Mann, einen großen Koffer hineinzutragen. Auf dem Treppenabsatz stand Mariana mit einem kleineren Koffer. Lídia grüßte.
    »Guten Tag.«
    Mariana erwiderte den Gruß. Silvestre hielt zum Grüßen inne und drehte sich um. Lídias Blick ging über ihn hinweg und richtete sich neugierig auf das Gesicht des jungen Mannes. Abel sah sie ebenfalls an. Als der Schuster den fragenden Blick seines Untermieters sah, grinste er und kniff ein Auge zu. Abel verstand.

8
    D er Tag ging langsam zur Neige, und die Nacht kündigte sich an in der friedlichen Dämmerung, die kein Lärm einer Stadt zu stören vermochte, als Adriana eilig um die Ecke bog. Sie hastete die Treppe hinauf und nahm zwei Stufen auf einmal, obwohl ihr Herz gegen die Anstrengung protestierte. Sie klingelte mit Nachdruck, ungeduldig, weil sie etwas warten musste. Die Mutter erschien.
    »Guten Abend, Mammilein. Hat es schon angefangen?«, fragte sie und küsste die Mutter.
    »Immer mit der Ruhe, Mädchen, ganz ruhig … Nein, noch nicht. Wieso bist du so gerannt?«
    »Ich hatte Angst, zu spät zu kommen. Sie haben mich im Büro mit dringenden Briefen aufgehalten.«
    Sie gingen in die Küche. Das Licht brannte schon. Das Radio spielte leise. Isaura saß im Küchenerker über ein rosa Hemd gebeugt und nähte. Adriana gab ihrer Schwester und der Tante einen Kuss. Dann setzte sie sich und verschnaufte.
    »Uff! Ich bin kaputt! Isaura, was nähst du da Hässliches?!«
    Die Schwester blickte auf und lachte.
    »Der Mann, der dieses Hemd tragen wird, muss der größte Dummkopf sein. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er im Geschäft dieses Prachtstück mit großen Augen bewundert, bereit, sein letztes Geld dafür herzugeben!«
    Beide lachten. Cândida bemerkte:
    »Immer müsst ihr alle Welt schlechtmachen!«
    Amélia stellte sich auf die Seite ihrer Nichten.
    »Findest du etwa, so ein Hemd zeugt von gutem Geschmack?«
    »Jeder zieht sich an, wie es ihm gefällt«, wandte Cândida ein.
    »Hör mal, das ist keine Meinung!«
    »Psst!«, machte Isaura. »Sonst verstehe ich nichts.«
    Der Sprecher kündigte ein Musikstück an.
    »Das ist es noch nicht«, sagte Adriana.
    Neben dem Radio lag ein Päckchen. Der Größe und Form nach konnte es ein Buch sein. Adriana nahm es in die Hand und fragte:
    »Was ist das? Noch ein Buch?«
    »Ja«, antwortete die Schwester.
    »Wie heißt es?«
    »Die Nonne.«
    »Wer hat es geschrieben?«
    »Diderot. Ich habe noch nie etwas von ihm gelesen.«
    Adriana legte das Buch wieder hin und dachte kurz darauf nicht mehr daran. Sie hatte kein großes Interesse an Büchern. Musik liebte

Weitere Kostenlose Bücher