Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
sie, so wie ihre Schwester, Mutter und Tante, doch Bücher fand sie langweilig. Um eine Geschichte zu erzählen, wurden Seiten um Seiten vollgeschrieben, dabei ließ sich doch jede Geschichte mit wenigen Worten zusammenfassen. Sie hatte kein Verständnis dafür, dass Isaura stundenlang las, mitunter bis spätnachts. Musik hingegen ja. Musik konnte sie eine ganze Nacht lang hören, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Und zum Glück liebten sie alle Musik. Wäre es nicht so, hätte es oft Streit gegeben.
»Jetzt geht es los«, sagte Isaura. »Mach lauter.«
Adriana drehte an einem Knopf. Die Stimme des Sprechers hallte durch die Wohnung:
»…
Der Totentanz
von Honegger, Text von Paul Claudel. Mit Jean-Louis Barrault. Achtung!«
In der Küche pfiff ein Wasserkessel. Tante Amélia nahm ihn vom Feuer. Man hörte das Kratzen der Nadel auf der Schallplatte, und gleich darauf ließ die dramatische, mitreißende Stimme von Jean-Louis Barrault die vier Frauen erzittern. Keine rührte sich. Sie starrten auf das magische Auge des Radioapparats, als käme die Musik von dort. In der Pause zwischen der ersten Platte und der zweiten hörten sie aus der Nachbarwohnung schrille Bläser mit einem Ragtime, dass ihnen die Trommelfelle fast platzten. Tante Amélia runzelte die Augenbrauen, Cândida seufzte, Isaura bohrte die Nadel mit Macht in das Hemd, Adriana bombardierte die Wand mit mörderischen Blicken.
»Stell es lauter«, sagte Tante Amélia.
Adriana drehte den Ton weiter auf. Die Stimme von Jean-Louis Barrault donnerte
j’existe!
, die Musik wirbelte über die
vaste pleine
– und die hektischen Töne des Ragtime mischten sich gleichsam ketzerisch in den Tanz
sur le pont d’Avignon
.
»Lauter!«
Mit tausendfachem Schrei der Verzweiflung und Not beklagte der Chor der Toten sein Leid und bekundete seine Reue, und das Thema des
dies irae
übertönte die Triller einer zappeligen Klarinette. Honegger setzte sich über den Lautsprecher durch und brachte den anonymen Ragtime zum Schweigen. Vielleicht war Maria Claudia ihre Lieblingssendung mit Tanzmusik langweilig geworden, vielleicht hatte sie der göttliche Furor erschreckt, den die tosende Musik transportierte. Als die letzten Töne des
Totentanzes
verklungen waren, machte sich Amélia brummelnd ans Abendessen. Aus Furcht vor dem Donnerwetter, aber ebenso empört, zog Cândida sich zurück. Tief beeindruckt von der Musik, kochten die beiden Schwestern vor heiligem Zorn.
»Das kann doch nicht sein«, erklärte schließlich Amélia. »Nicht dass ich mich über andere erheben will, aber es kann doch nicht sein, dass es Leute gibt, die diese Verrücktenmusik mögen!«
»Doch, die gibt es, Tante Amélia«, sagte Adriana.
»Das sehe ich!«
»Nicht alle sind so erzogen wie wir«, fügte Isaura hinzu.
»Das weiß ich auch. Aber ich finde, alle Menschen müssten in der Lage sein, die Spreu vom Weizen zu trennen. Was gut ist, auf die eine Seite; was schlecht ist, auf die andere.«
Cândida, die gerade die Teller aus dem Schrank nahm, wagte einen Einwand:
»Das geht nicht. Das Gute und das Böse, das Schöne und das Schlechte treten immer vermischt auf. Niemand und nichts ist vollkommen gut oder vollkommen schlecht. Finde ich jedenfalls«, fügte sie schüchtern hinzu.
Amélia drehte sich zu ihrer Schwester um, in der Hand den Löffel, mit dem sie die Suppe abschmeckte.
»Das ist nicht übel. Dann bist du dir also nicht sicher, ob das, was dir gefällt, gut ist?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Warum gefällt es dir dann?«
»Weil ich glaube, dass es gut ist, aber ob es das wirklich ist, weiß ich nicht.«
Amélia kräuselte verächtlich die Lippen. Die Tendenz ihrer Schwester, sich bei keiner Sache sicher zu sein, alles differenziert zu betrachten, kollidierte mit ihrem Sinn fürs Praktische, ihrer Art, die Welt vertikal zu unterteilen. Cândida war verstummt, sie bereute, so viel gesagt zu haben. So subtil zu diskutieren war eigentlich nicht ihre Art; das hatte sie sich im Zusammenleben mit ihrem Mann angewöhnt, und was bei ihm besonders kompliziert gewesen war, hatte sich bei ihr vereinfacht.
»Das ist alles schön und gut«, Amélia ließ nicht locker. »Wer weiß, was er will und was er hat, der läuft Gefahr, zu verlieren, was er hat, und nicht zu bekommen, was er vielleicht haben möchte.«
»Wie kompliziert«, bemerkte Cândida lächelnd.
Die Schwester sah ein, dass sie sich nicht klar ausgedrückt hatte, was sie noch gereizter machte.
»Das ist nicht
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