Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Ich habe mehrmals gehungert und gefroren. Ich habe Überfluss und Entbehrung erlebt. Ich habe gegessen wie ein Wolf, der nicht weiß, ob er am nächsten Tag Beute erjagen wird, und ich habe gefastet, als hätte ich mir vorgenommen, zu verhungern. Und jetzt bin ich hier. Ich habe in allen Teilen der Stadt gewohnt. Habe in Schlafsälen übernachtet, wo es Flöhe und Wanzen zu Tausenden gab. Habe bei einigen netten Mädchen, die es in dieser Stadt Lissabon zu Hunderten gibt, so etwas wie ein Heim gehabt. Abgesehen von den Kuchen meines Chefs habe ich nur ein einziges Mal gestohlen. Das war im Park Jardim da Estrela. Ich hatte Hunger. Und ich, der sich damit auskennt, kann sagen, dass ich einen solchen Hunger noch nie erlebt hatte. Das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe, kam auf mich zu. Nein, nicht, was Sie denken … Es war ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, nicht mehr. Und vielleicht bezeichne ich sie als schön, um sie für meinen Diebstahl zu entschädigen. Sie hielt eine Scheibe Brot mit Butter in der Hand, noch kaum angebissen. Die Eltern oder das Hausmädchen mussten in der Nähe sein. Daran dachte ich mit keinem Gedanken. Sie schrie nicht, weinte nicht, und wenige Augenblicke später stand ich schon hinter der Kirche und aß mein Brot mit Butter.«
In Silvestres Augen glänzten Tränen.
»Ich bin niemals meine Zimmermiete schuldig geblieben. Das sage ich, damit Sie beruhigt sind …«
Der Schuster zuckte gleichgültig die Achseln. Er wünschte sich, dass Abel weitersprach, weil er ihm gern zuhörte, aber vor allem weil er nichts zu antworten wusste. Etwas fragen, ja, das wollte er, aber er fürchtete, dafür sei es noch zu früh. Abel kam ihm zuvor.
»Dies ist das zweite Mal, dass ich jemandem davon erzähle. Das erste Mal war es eine Frau. Ich dachte, sie würde es verstehen, aber ich hatte mich getäuscht, Frauen verstehen nichts. Sie wollte ein richtiges Heim und glaubte, mich halten zu können. Irrtum. Jetzt habe ich es Ihnen erzählt, warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil Sie mir sympathisch sind, vielleicht, weil es schon ein paar Jahre her ist, dass ich es zum ersten Mal erzählt habe, und weil ich das Bedürfnis hatte, es mir von der Seele zu reden. Vielleicht auch aus einem ganz anderen Grund … Ich weiß es nicht …«
»Sie haben es mir erzählt, damit ich Ihnen nicht mehr misstraue«, sagte Silvestre.
»Oh, nein! Viele Leute haben mir misstraut, aber nichts erfahren … Vielleicht war es die Uhrzeit, unser Damespiel, das Buch, das ich jetzt lesen würde, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen, wer weiß … Wie dem auch sei, nun wissen Sie es.«
Silvestre kratzte sich mit beiden Händen die wirre Mähne. Dann füllte er sein Glas und leerte es in einem Zug. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und fragte:
»Was ist der Grund dafür, dass Sie so leben? Entschuldigen Sie, wenn ich indiskret bin.«
»Das sind Sie nicht. Ich lebe so, weil ich es will, weil ich nicht anders leben will. So wie andere leben, das reizt mich nicht. Ich will nicht festgehalten werden, und das Leben ist ein Krake mit vielen Tentakeln. Schon ein einziger Tentakel genügt, um einen Mann zu umklammern. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich festgehalten werde, schneide ich den Tentakel durch. Mitunter ist das schmerzhaft, aber es geht nicht anders. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe sehr gut. Aber das bringt Ihnen doch keinerlei Nutzen.«
»Nutzen interessiert mich nicht.«
»Ganz bestimmt haben Sie anderen damit Kummer bereitet …«
»Ich habe mich bemüht, das möglichst zu vermeiden. Aber wenn das nicht ging, habe ich nicht gezögert.«
»Sie sind hart!«
»Hart? Nein. Ich bin verletzlich, wirklich. Und weil ich mir dieser Verletzlichkeit so bewusst bin, weiche ich jeder Bindung aus. Wenn ich mich nicht wehre, mich festhalten lasse, bin ich verloren.«
»Bis eines Tages … Ich bin alt. Ich habe Erfahrung …«
»Ich auch.«
»Aber meine ist viele Jahre alt …«
»Und was sagt sie Ihnen?«
»Dass das Leben viele Tentakel hat, wie Sie es eben genannt haben. Und ganz gleich, wie viele man durchschneidet, einer bleibt immer übrig und hält uns am Ende fest.«
»Ich hatte nicht gedacht, dass Sie so ein … wie soll ich sagen …«
»Ein Philosoph bin? Schuster haben immer etwas von einem Philosophen. Das haben schon andere gesagt …«
Beide lachten. Abel sah auf die Uhr.
»Zwei Uhr, Senhor Silvestre. Höchste Zeit, schlafen zu gehen. Aber vorher möchte ich Ihnen
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