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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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deutliche Gefühl, dass er in dieser Wohnung ein Fremder war und nichts von dem, was ihn hier umgab, wirklich ihm gehörte, auch wenn es von seinem Geld gekauft worden war. Etwas haben heißt nicht, es zu besitzen. Man kann sogar das haben, was man nicht haben möchte. Besitzen heißt etwas haben und genießen, was man hat. Er hatte ein Heim, eine Frau und einen Sohn, aber nichts gehörte ihm wirklich. Nur er selbst, und auch das nicht ganz und gar.
    Mitunter überlegte Emílio, ob er nicht verrückt war, ob dieses ganze Dasein, diese Konflikte, diese Ausbrüche, diese ständigen Meinungsverschiedenheiten letztlich nicht Folge einer Nervenstörung waren. Außerhalb des Hauses war er – zumindest glaubte er das – ein normaler Mensch, der wie jeder andere lächeln oder lachen konnte. Kaum aber hatte er die Türschwelle überschritten, senkte sich eine unerträgliche Last auf ihn. Er fühlte sich wie ein Mann kurz vorm Ertrinken, der seine Lungen nicht mehr mit Luft füllt, die ihm das Weiterleben ermöglichen würde, sondern mit Wasser, das ihn umbringt. Er dachte, er müsse zufrieden sein mit dem, was das Leben ihm beschert hatte, denn andere waren weniger vom Glück begünstigt und dennoch zufrieden. Doch dieser Vergleich schenkte ihm keine Ruhe. Er wusste gar nicht, was genau ihm Ruhe verschaffen und wo er es finden konnte. Zudem wusste er nicht, ob es diese Ruhe überhaupt irgendwo gab. Aus langjähriger Erfahrung wusste er nur, dass er sie nicht hatte. Und er wusste auch, dass er sich nach ihr sehnte wie ein Schiffbrüchiger nach der rettenden Planke, wie der Samen nach der Sonne.
    Diese Gedanken, tausendfach gedacht, führten immer an denselben Punkt. Er verglich sich mit einem Tier, das, an einen Schöpfbrunnen angebunden und mit Scheuklappen vor den Augen, Meilen und Meilen immer im selben engen Kreis geht. Er war kein solches Tier, er hatte keine Scheuklappen vor den Augen, er sah ein, dass seine Gedanken ihn auf längst bekannte Wege führten. Das zu wissen machte es noch schlimmer, denn er, der ja ein Mensch und folglich vernunftbegabt war, handelte irrational. Einem nicht vernunftbegabten Wesen kann man schlecht vorwerfen, dass es sich dem Joch beugt; aber ihm, konnte man ihm das vorwerfen? Was hielt ihn? Gewohnheit, Feigheit, Angst davor, andere leiden zu lassen? Gewohnheiten kann man durch andere ersetzen, Feigheit kann man überwinden, das Leiden anderer ist fast immer weniger schlimm, als wir befürchten. Hatte er nicht schon erlebt, dass niemand ihn vermisste, wenn er nicht da war? Warum blieb er dann? Welche Macht hielt ihn in diesem Haus, bei dieser Frau und diesem Kind? Wer hatte diese Fesseln geknüpft?
    Ihm kam keine andere Antwort in den Sinn als: »Ich bin es müde.« So müde, dass er, wohl wissend, dass er alle Türen seines Gefängnisses würde öffnen können und den Schlüssel dafür in der Hand hatte, keinen Schritt in die Freiheit wagte. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihm sogar Freude machte, wie einem, der Verzicht geleistet hat, wie einem, der die Uhr zurückstellt, als er die Stunde der Entscheidung kommen sieht, und sagt: »Es ist noch zu früh.« Die Freude am Opfer. Doch ein Opfer ist erst dann ein richtiges Opfer, wenn es im Verborgenen geschieht. Es sichtbar machen heißt so viel wie ständig sagen: »Ich opfere mich«, es heißt, die anderen zu zwingen, es nicht zu vergessen. Und das bedeutet, dass man noch nicht vollends verzichtet hat, dass hinter dem Verzicht noch Hoffnung besteht, so wie jenseits der Wolken der Himmel immer noch blau ist.
    Carmen blickte zu ihrem Mann, er war in Gedanken versunken. Emílios Aschenbecher war voller Kippen, und er rauchte immer weiter. Sie hatte einmal ausgerechnet, wie viel Geld für Zigaretten draufging, und ihm deshalb böse Vorhaltungen gemacht. Auch ihren Eltern hatte sie es mitgeteilt, worauf diese sie bedauerten. Verbranntes Geld, zum Fenster hinausgeworfenes Geld, Geld, das ihnen fehlte. Laster sind etwas für reiche Leute, und wer Laster pflegen will, soll zuerst reich werden. Doch Emílio, Handelsvertreter aus Mangel an Alternativen, aus der Not heraus und nicht aus Berufung, ließ nicht erkennen, hatte noch nie erkennen lassen, dass er reich werden wollte. Er begnügte sich mit dem Allernotwendigsten, mehr strebte er nicht an. Was für ein Mann, und was für ein Leben!
    Carmen war aus anderem Holz geschnitzt, sie gehörte zu denen, für die das Leben keine besinnliche Veranstaltung war, sondern Kampf. Sie war

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