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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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Republik war nichts Neues mehr, und in diesem Land wird nur Neues wertgeschätzt. Wir kämpfen wie die Löwen für ein Ziel und enden als Packesel. Das liegt uns im Blut. Es gab viel Begeisterung, viel Engagement, es war, als wäre uns ein Kind geboren. Aber es gab auch viele Leute, die entschlossen waren, mit unseren Ideen aufzuräumen. Denen war jedes Mittel recht. Und das Schlimmste war, dass da Leute auftauchten, die mit aller Gewalt das Vaterland retten wollten. Als stünde es vor dem Untergang … Keiner wusste mehr so richtig, was er wollte. Gestern noch Freunde, am nächsten Tag Feinde, ohne genau zu wissen, warum. Ich hörte etwas hier, etwas da, grübelte, wollte etwas tun, wusste aber nicht, was. Es gab Momente, da wäre ich bereit gewesen, mein Leben herzugeben, wenn man es von mir verlangt hätte. Ich diskutierte mit meinen Arbeitskameraden. Einer war Sozialist. Er war der Intelligenteste von uns allen. Er wusste sehr viel. Glaubte an den Sozialismus und konnte erklären, wieso. Mir lieh er Bücher. Ich sehe ihn noch vor mir. Er war älter als ich, sehr dünn und sehr blass. Wenn er über bestimmte Dinge sprach, funkelten seine Augen. Als Folge seiner Arbeitshaltung und weil er schwach war, hatte er einen krummen Rücken. Seine Brust war eingefallen. Er sagte, er habe mich gern, weil ich stark und gleichzeitig klug sei …«, Silvestre schwieg kurz, zündete die Zigarette, die inzwischen erloschen war, neu an und fuhr fort: »Er hieß so wie Sie, Abel … Das ist jetzt schon über vierzig Jahre her. Er ist vor dem Krieg gestorben. Eines Tages kam er nicht zur Arbeit, und ich ging ihn besuchen. Er wohnte bei seiner Mutter, lag hoch fiebernd im Bett. Er hatte Blut gespuckt. Als ich ins Zimmer kam, lächelte er. Dieses Lächeln bedrückte mich, es war, als wollte er sich von mir verabschieden. Zwei Monate später war er tot. Er hat mir seine Bücher vermacht. Ich habe sie immer noch …«
    Silvestres Blick ging zurück in die ferne Vergangenheit. Er sah das ärmliche Zimmer des Kranken, so ärmlich wie sein eigenes, die langen Hände mit rötlich lila Fingernägeln, das blasse Gesicht mit den brennenden Augen.
    »Sie haben nie einen Freund gehabt, oder?«, fragte er.
    »Nein, nie …«
    »Schade. Sie wissen nicht, was es heißt, einen Freund zu haben. Auch nicht, wie schwer es ist, einen Freund zu verlieren, und wie sehr er einem fehlt, wenn man an ihn zurückdenkt. Das gehört zu den Dingen, die das Leben Sie nicht gelehrt hat …«
    Abel antwortete nicht, nickte aber bedächtig. Silvestres Stimme, die Worte, die er hörte, brachten seine Gedanken in eine neue Ordnung. Ein Licht, nicht sehr hell, doch eindringlich, hatte sich den Weg in seinen Kopf gebahnt und beleuchtete Schatten und Nischen.
    »Dann kam der Krieg«, sprach Silvestre weiter. »Ich ging nach Frankreich. Nicht freiwillig. Sie haben mich geschickt, da half nichts. In Flandern steckten wir bis zu den Knien im Schlamm. Ich war in La Couture … Wenn ich vom Krieg spreche, kann ich nicht sehr viel sagen. Ich stelle mir vor, was der letzte Krieg für die gewesen sein muss, die ihn erlebt haben, und halte den Mund. Wenn der erste der Große Krieg war, wie soll man dann den letzten nennen? Und wie wird man den nächsten nennen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Als ich zurückkam, hatte sich etwas verändert. In zwei Jahren gibt es immer Veränderungen. Aber am meisten verändert hatte ich mich. Ich kehrte an den Schustertisch zurück, in einer anderen Werkstatt. Meine neuen Kollegen waren schon erwachsene Männer und Familienväter, die sich keine Märchen erzählen lassen wollten, wie sie sagten. Als sie herausbekommen hatten, wer ich war, schwärzten sie mich beim Chef an. Mir wurde gekündigt und mit der Polizei gedroht …«
    Silvestre lächelte gezwungen, als wäre ihm etwas Lustiges eingefallen. Doch gleich darauf wurde er wieder ernst.
    »Die Zeiten hatten sich geändert. Bevor ich nach Frankreich ging, konnte man seine Ideen den Kollegen gegenüber laut aussprechen, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, deswegen zur Polizei oder zum Chef zu gehen. Aber nun musste man den Mund halten. Und ich schwieg. Um diese Zeit habe ich meine Mariana kennengelernt. Wer sie heute sieht, kann sich nicht vorstellen, wie sie damals aussah. Schön wie ein Maimorgen …«
    Ohne darüber nachzudenken, fragte Abel:
    »Sie haben Ihre Frau sehr gern?«
    Silvestre zögerte überrascht. Dann antwortete er ernst und aus tiefer

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