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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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gebe ich zu. Aber wem hat Ihr Leben genützt?«
    »Ich habe mich bemüht. Und wenn ich nichts erreicht habe, so habe ich mich doch wenigstens bemüht.«
    »Auf Ihre Art. Und wer sagt Ihnen, dass es die beste ist?«
    »Heute sagen fast alle, es sei die schlechteste. Gehören Sie womöglich zu denen, die so reden?«
    »Wenn ich ehrlich sein soll, ich weiß es nicht …«
    »Das wissen Sie nicht? In Ihrem Alter und nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben, wissen Sie das noch nicht?«
    Abel hielt Silvestres Blick nicht stand und senkte den Kopf.
    »Wie ist es möglich, dass Sie das nicht wissen?«, fragte der Schuster wieder. »Diese zwölf Jahre, die Sie so gelebt haben, haben Ihnen nicht die Erbärmlichkeit des menschlichen Daseins gezeigt? Das Elend? Den Hunger? Die Unwissenheit? Die Angst?«
    »Doch, all das. Aber es ist eine andere Zeit …«
    »Ja. Es ist eine andere Zeit, aber die Menschen sind dieselben …«
    »Manche sind gestorben … Ihr Freund Abel zum Beispiel.«
    »Aber andere wurden geboren. Sie, mein Freund Abel … Abel Nogueira, zum Beispiel.«
    »Jetzt widersprechen Sie sich. Vorhin erst haben Sie gesagt, dass ich zu denen gehöre, die noch nicht geboren sind …«
    Silvestre zog den Arbeitstisch wieder zu sich. Er griff nach dem Schuh und nahm seine Arbeit wieder auf. Mit zitternder Stimme antwortete er:
    »Vielleicht haben Sie mich nicht verstanden.«
    »Ich verstehe Sie besser, als Sie glauben …«
    »Und habe ich nicht recht?«
    Abel stand auf, er blickte hinaus in den Hinterhof. Die Nacht war dunkel. Er öffnete das Fenster. Alles war still und düster. Aber am Himmel standen Sterne. Die Milchstraße spannte ihre helle Bahn von einem Horizont zum anderen. Und von der Stadt stieg dumpfes Brausen wie aus einem Krater auf.

22
    D ank der Vitalität eines Sechsjährigen erholte sich Henrique schnell. Die Krankheit hatte keine bösen Spuren hinterlassen, dafür schien es, als hätte sich sein Wesen verändert. Vielleicht war er empfindlicher geworden, weil sie ihn übertrieben umsorgt hatten. Bei jedem etwas strengeren Wort traten ihm die Tränen in die Augen, und schon weinte er.
    Aus dem zappeligen Jungen war ein scheues Kind geworden. In Gegenwart des Vaters wurde er ernst und genauso schweigsam. Er sah ihn mit zärtlichem Blick an, voll stummer Verehrung, liebender Zuneigung. Der Vater verhielt sich nicht liebevoller als zuvor – es gab also keine nennenswerte Erwiderung. Was Henrique jetzt zu ihm hinzog, war genau das, was ihn zuvor abgehalten hatte: sein Schweigen, seine knappen Sätze, sein geistesabwesender Ausdruck. Aus ihm unbekannten Gründen – die er auch nicht verstanden hätte, wären sie ihm bekannt gewesen – hatte sein Vater an seinem Bett gesessen. Sein besorgtes und zugleich reserviertes Gesicht, die feindselige Atmosphäre im Haus, all das, dazu seine durch die Krankheit sensibilisierte Wahrnehmung drängten ihn auf merkwürdige Weise zum Vater hin. In seinem kleinen Hirn hatte sich eine der vielen bislang geschlossenen Türen geöffnet. Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, tat er einen Schritt zum Erwachsenwerden. Er nahm die Missstimmung in der Familie wahr.
    Zwar hatte er vorher schon heftige Szenen zwischen den Eltern erlebt. Aber er hatte sie als gleichgültiger Zuschauer erlebt, wie ein Spiel, das ihn weder aus der Nähe noch aus der Ferne betraf. Das war jetzt anders. Noch unter dem Einfluss der Krankheit, spürte er unwillentlich alles, worin sich der latente Konflikt äußerte. Das Prisma, durch das er seine Eltern sah, hatte sich gedreht, ein wenig nur, doch weit genug, dass er sie jetzt anders zur Kenntnis nahm. Diese Veränderung hätte früher oder später ohnehin stattgefunden – die Krankheit hatte sie nur beschleunigt.
    Das Bild seiner Mutter hatte sich für ihn fraglos überhaupt nicht verändert. Doch der Vater erschien ihm nun in anderem Licht. Henrique war sechs Jahre alt – ihm konnte unmöglich bewusst sein, dass die Veränderung in ihm selbst stattgefunden hatte. Folglich musste es der Vater sein, der sich verändert hatte. Doch weder sprach der Vater häufiger mit ihm, noch küsste er ihn öfter als zuvor. Da Henrique die wahre Erklärung nicht kannte, führte er die Veränderung darauf zurück, dass der Vater ihn während seiner Krankheit so liebevoll umsorgt hatte. So gesehen war also alles in Ordnung. Letztlich revanchierte sich Henrique mit seinem Interesse lediglich: nicht für des Vaters Interesses in der Gegenwart, sondern

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