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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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Überzeugung:
    »Ja. Sehr, sehr gern.«
    »Es ist die Liebe«, dachte Abel. »Es ist die Liebe, die ihnen diese Ruhe schenkt, diese Friedlichkeit.« Und plötzlich schoss ihm der dringende Wunsch, zu lieben, ins Herz, sich hinzugeben, in der Dürre seines Lebens die rote Blume der Liebe zu sehen. Silvestre sprach weiter:
    »Ich habe an meinen Freund Abel gedacht, den anderen …«
    Lächelnd bedankte sich der junge Mann mit einer Kopfbewegung für die Feinfühligkeit dieser Bemerkung.
    »Ich las die Bücher, die er mir vermacht hatte, noch einmal und begann, ein Doppelleben zu führen. Tagsüber war ich Schuster, ein schweigsamer Schuster, dessen Blick nicht weiter reichte als bis zu den Schuhen, die er neu besohlte. Abends lebte ich dann mein wahres Ich. Wundern Sie sich nicht, dass meine Ausdrucksweise für einen mit meinem Beruf zu fein ist. Ich habe mit vielen gebildeten Menschen zu tun gehabt, und wenn ich nicht alles gelernt habe, was ich hätte lernen müssen, so habe ich doch zumindest so viel gelernt, wie ich konnte. Zweimal habe ich mein Leben riskiert. Ich habe keinen Auftrag abgelehnt, und wenn er noch so gefährlich war …«
    Silvestre sprach langsamer, als wehrte er sich gegen eine schmerzliche Erinnerung oder als suchte er, wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, nach den passenden Worten, darüber zu sprechen.
    »Einmal streikten die Eisenbahner. Nach zwanzig Tagen wurden sie zum Militär eingezogen. Als Reaktion darauf ordnete das Zentralkomitee an, die Bahnhöfe zu räumen. Ich hielt Kontakt zu den Eisenbahnern, das war mein Auftrag. Ich galt als Vertrauensmann, obwohl ich noch so jung war. Meine Aufgabe bestand darin, eine Gruppe anzuführen, die nachts in einem Viertel von Barreiro Plakate kleben sollte. Spätnachts stießen wir mit Leuten von der Monarchistischen Jugend zusammen …«
    Silvestre drehte sich eine neue Zigarette. Seine Hände zitterten leicht, er vermied es, Abel in die Augen zu sehen.
    »Einer kam ums Leben. Ich habe ihn nicht genau gesehen, aber er war jung. Er lag auf der Straße. Es regnete, ein kalter Nieselregen, die Straßen waren voller Matsch. Dann kam die Polizei, wir liefen weg, bevor man uns identifizieren konnte. Wer ihn getötet hat, haben wir nie erfahren …«
    Drückende Stille, als hätte der Tod zwischen den beiden Männern Platz genommen. Silvestre hielt den Kopf noch immer gesenkt. Abel hustete kurz und fragte:
    »Und dann?«
    »Dann … So ging es jahrelang. Später habe ich geheiratet. Meine Mariana hat meinetwegen viel gelitten. Stumm. Sie glaubte, ich hätte recht, und hat mir nie Vorhaltungen gemacht. Wollte mich nie von meinem Weg abbringen. Dafür bin ich ihr dankbar. Die Jahre vergingen. Heute bin ich alt …«
    Silvestre stand auf und verließ den Erker. Nach wenigen Minuten kam er mit der Likörflasche und zwei Gläsern zurück.
    »Möchten Sie einen Kirschlikör zum Aufwärmen?«
    »Ja, gern.«
    Die beiden Männer saßen schweigend vor ihren gefüllten Gläsern.
    »Und nun?«, fragte Abel nach einer Weile.
    »Was?«
    »Wo bleibt die bestimmte Sicht auf die Dinge?«
    »Haben Sie das nicht bemerkt?«
    »Doch, vielleicht schon, aber ich würde es lieber von Ihnen hören.«
    Silvestre leerte das Glas mit einem Schluck, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und antwortete:
    »Wenn Sie das nicht selbst entdeckt haben, dann habe ich Ihnen nicht richtig vermittelt, was ich empfinde. Kein Wunder. Manche Dinge sind so schwierig in Worte zu fassen … Wir glauben, alles sei gesagt, aber letztlich …«
    »Weichen Sie nicht aus.«
    »Nein, nein, ich weiche nicht aus. Ich habe gelernt, mehr zu sehen als nur diese Schuhsohlen, ich habe gelernt, dass es hinter diesem elenden Leben der Menschen ein großes Ideal gibt, eine große Hoffnung. Ich habe gelernt, dass das Leben jedes Einzelnen von uns von diesem Ideal, dieser Hoffnung geleitet sein muss. Und wenn es Menschen gibt, die nicht so empfinden, dann liegt das daran, dass sie schon gestorben sind, bevor sie geboren wurden.« Lächelnd fügte er hinzu: »Der Satz stammt nicht von mir. Ich habe ihn vor vielen Jahren gehört …«
    »Ihrer Meinung nach zähle ich also zu denen, die gestorben sind, bevor sie geboren wurden?«
    »Sie zählen zu einer anderen Gruppe, zu denen, die noch nicht geboren sind.«
    »Vergessen Sie dabei nicht, dass ich viel Erfahrung habe?«
    »Nein, ich vergesse nichts. Erfahrung zählt nur dann, wenn sie anderen nützt, und Sie sind für niemanden von Nutzen.«
    »Ja, das

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