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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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zweckfrei und nutzlos bin? Und gegen diese Nutzlosigkeit – die Nutzlosigkeit des Lebens, denn nur die interessiert ihn – protestiert Silvestre. Das Leben soll sinnvoll sein, zu jeder Zeit, sich dahin und dorthin auswirken. Dabei sein ist nichts. Zusehen heißt tot sein. Das will er sagen. Ganz gleich, ob man sich hier oder da befindet, entscheidend ist, dass das Leben sich auswirkt, dass es kein schlichtes tierhaftes Dahinfließen ist, unbewusst wie das Fließen des Wassers am Quell. Aber wie sich auswirken? Und wo? Wie und wo, diese Fragen werfen tausend Fragen auf. Es reicht nicht, zu sagen, das Leben müsse sich auswirken. Auf die Fragen nach dem ›Wie‹ und nach dem ›Wo‹ gibt es unendlich viele Antworten. Silvestres Antwort ist die eine, die Antwort des Gläubigen einer beliebigen Religion eine ganz andere. Und wie viele gibt es noch? Abgesehen davon, dass dieselbe Antwort für mehrere Menschen richtig sein kann, so wie für jeden eine weitere Antwort richtig sein kann, die es für andere nicht ist. Letztendlich habe ich mich verrannt. Alles wäre gut, wenn ich nicht ahnte, dass es andere Wege gibt, während ich damit beschäftigt bin, die Hindernisse auf meinem zu beseitigen. Das Leben, das ich gewählt habe, ist hart und schwierig. Ich habe daraus gelernt. Es liegt in meiner Hand, dieses Leben aufzugeben und ein neues zu beginnen. Warum tue ich es nicht? Weil mir dieses Leben gefällt? Einerseits. Ich finde es interessant, bewusst ein Leben zu führen, das andere nur unter Zwang akzeptieren würden. Aber es genügt nicht, dieses Leben genügt mir nicht. Für welches soll ich mich dann entscheiden? ›Verheiratet, nichtig, steuerpflichtig sein‹? Aber kann man das eine sein und das andere nicht? Und dann?«
    Dann … Dann … Abel war ratlos. Silvestre hatte ihm vorgeworfen, nutzlos zu sein, und das hatte ihn geärgert. Niemand hat es gern, wenn andere die eigenen wunden Punkte entdecken, und das Bewusstsein seiner Nutzlosigkeit war Abels Achillesferse. Tausendfach hatte er sich in Gedanken die unbequeme Frage gestellt: »Wofür?« Er wich aus, tat so, als dächte er über etwas anderes nach oder sinnierte vor sich hin, doch die Frage verschwand nicht: Standhaft und ironisch, unerbittlich wie zuvor, wartete sie ab, dass er aus seinen Gedanken auftauchte. Er verzweifelte darüber, vor allem weil er bei anderen Menschen keineswegs die Ratlosigkeit feststellen konnte, die ihm gezeigt hätte, dass auch sie sich diese Fragen stellten. Die Ratlosigkeit der anderen (so meinte Abel) beruhte auf privaten Sorgen, Geldmangel, Liebeskummer, auf allem Möglichen, nur nicht auf dem eigenen Leben, dem Leben an sich. In früheren Zeiten hatte ihm diese Gewissheit das tröstliche Gefühl von Überlegenheit geschenkt. Heute ärgerte sie ihn. So große Sicherheit, so große Unbekümmertheit angesichts zweitrangiger Probleme riefen in ihm Verachtung und Neid hervor.
    Mit seinen Erinnerungen hatte Silvestre es noch schlimmer gemacht. Abel war zwar verwirrt, sah aber ein, dass das Leben seines Vermieters, was Ergebnisse betraf, nutzlos gewesen war: Nichts von dem, was er angestrebt hatte, hatte er erreicht. Silvestre war alt und machte heute dasselbe wie gestern: Schuhe reparieren. Doch derselbe Silvestre hatte gesagt, das Leben habe ihn zumindest gelehrt, weiter zu sehen als nur bis zu dem Schuh, den er neu besohlt, während das Leben Abel nichts anderes gegeben hatte als die Befähigung, zu vermuten, dass es etwas Verborgenes gab, etwas, das seinem Dasein einen konkreten Sinn geben konnte. Besser wäre es gewesen, er hätte diese Befähigung nie erhalten. Er würde friedlich und in Ruhe leben, mit der Ruhe des schlummernden Denkens, wie die Menschen gemeinhin. »Die Menschen gemeinhin«, dachte er, »was für ein blöder Ausdruck! Was weiß ich, wie die Menschen gemeinhin sind! Im Laufe eines Tages sehe ich Tausende von Menschen, aber ich nehme nur ein paar Dutzend wahr. Sie sind ernst, fröhlich, bewegen sich langsam oder hastig, sind hässlich oder schön, gewöhnlich oder attraktiv, und das nenne ich die Menschen gemeinhin. Was mag ein jeder von ihnen über mich denken? Auch ich bewege mich langsam oder hastig, bin ernst oder fröhlich. Für manche bin ich vielleicht hässlich, für andere schön, gewöhnlich oder attraktiv. Letztlich zähle auch ich zu den Menschen gemeinhin. Auch bei mir schlummert das Denken nach Ansicht so mancher Leute. Wir alle nehmen täglich unsere Dosis Morphium auf, das unser Denken

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