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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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einschläfert. Gewohnheiten, Laster, Floskeln, die übliche Gestik, die monotonen Freunde, die Feinde ohne echten Hass, all das schläfert ein. Ein erfülltes Leben … Wer könnte sagen, er führe ein erfülltes Leben? Wir alle tragen das Joch der Monotonie! Wir alle hoffen auf weiß der Himmel was! Ja, wir alle hoffen! Die einen weniger konkret als die anderen, aber die Erwartung ist allen gemein … den Menschen gemeinhin! Es so zu sagen, mit diesem verächtlichen, überheblichen Ton, das ist idiotisch. Morphium der Gewohnheit, Morphium der Monotonie …
    Ach, Silvestre, mein guter, lauterer Silvestre, du ahnst ja nicht, welch massive Mengen du geschluckt hast! Du und deine dicke Mariana, die so gut ist, dass man weinen möchte!« Bei diesem Gedanken war er selbst schon den Tränen nah. »Nicht einmal das, was ich denke, zeichnet sich durch Originalität aus. Es ist wie ein Secondhand-Anzug in einem Neubaugeschäft. Wie eine Ware, die fehl am Platz ist, in buntes Papier mit passendfarbigem Band gewickelt. Überdruss, sonst nichts. Lebensmüdigkeit, Aufstoßen nach Schwerverdaulichem, Ekel.«
    Immer wenn er an diesem Punkt angelangt war, ging Abel aus dem Haus. War es noch nicht zu spät und er hatte Geld, ging er ins Kino. Er fand die Geschichten sinnlos. Männer, die hinter Frauen her waren, Frauen, die hinter Männern her waren, Abartigkeiten, Grausamkeiten, Stumpfsinn vom ersten bis zum letzten Bild. Tausendfach immer dieselbe Geschichte: er, sie und ihr Geliebter, sie, er und der Geliebte, und schlimmer noch, wie primitiv der Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt wurde, zwischen Reinheit und Verderbtheit, zwischen Dreck und strahlendem Stern. Morphium. Vom Gesetz erlaubte, in der Presse angekündigte Vergiftung. Ein Zeitvertreib, als wäre die Ewigkeit ein Menschenleben.
    Das Licht ging an, die Zuschauer erhoben sich unter dem Klappern der Sitze. Abel blieb sitzen. Die zweidimensionalen Gespenster, die auf den Plätzen gesessen hatten, waren verstummt. »Und ich bin das vierdimensionale Gespenst«, murmelte er.
    In der Annahme, er sei eingeschlafen, kam das Personal, um ihn hinauszuscheuchen. Draußen eilten die letzten Zuschauer zu den leeren Plätzen in der Straßenbahn. Frischverheiratete Paare, eng umschlungen … kleinbürgerliche Paare, seit Jahrzehnten durch das Band der heiligen Ehe verbunden, er vorneweg, sie hinterher. Höchstens ein halber Schritt trennte sie, doch dieser halbe Schritt drückte die Distanz aus, die ein für alle Mal zwischen ihnen herrschte. Und sie, diese Kleinbürger im fortgeschrittenen Alter, waren das künftige Abbild des jungen Paares, dessen Eheringe noch den Glanz des Neuen besaßen.
    Abel ging durch die stillen, unbelebten Straßen mit Straßenbahnschienen, die in Parallelen glänzten, jenen Parallelen, die niemals zusammentreffen. »Sie treffen sich im Unendlichen! Ja, die Gelehrten sagen, Parallelen treffen sich im Unendlichen … Wir alle begegnen uns im Unendlichen, in der Unendlichkeit des Stumpfsinns, der Apathie, der Stagnation.«
    »Wie wär’s mit uns?«, fragte eine Frauenstimme aus der Dunkelheit. Abel lächelte traurig.
    »Erstaunliche Gesellschaft, die für alles vorsorgt! Auch nicht die unglücklichen Junggesellen vergisst, die an ein geregeltes Sexualleben denken müssen! Und an die glücklich verheirateten Ehemänner denkt, die für wenig Geld gern etwas Abwechslung genießen! Eine liebevolle Mutter bist du, Gesellschaft!«
    In den Straßen am Stadtrand Mülltonnen vor jeder Tür. Hunde suchten nach Knochen, Lumpensammler nach Stoffresten und Papier. »Nichts in der Natur wird neu geschaffen, und nichts geht verloren. Verehrter Lavoisier, ich wette, du hättest nie gedacht, dass dein Lehrsatz seine Bestätigung durch eine Mülltonne erfährt!«
    Er ging in ein Café. Besetzte Tische, freie Tische, gähnende Kellner, Rauchschwaden, Gesprächsfetzen, Geklapper von Tassen – Stagnation. Und er allein. Bedrückt ging er wieder. Draußen empfing ihn die laue Aprilnacht. Weiter, immer weiter. Nach links oder nach rechts nur, wenn die Straße es entscheidet. Die Straße und die Notwendigkeit, irgendwann nach Hause gehen zu müssen. Und irgendwann ging Abel nach Hause.
    Er wurde einsilbig. Silvestre und Mariana wunderten sich. Sie hatten sich daran gewöhnt, ihn als zugehörig, fast als Familienmitglied zu betrachten, und waren verschnupft, empfanden es als Kränkung ihres Vertrauens. Eines Abends kam Silvestre zu ihm ins Zimmer unter dem Vorwand, ihm

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