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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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eine Zeitungsnotiz zeigen zu wollen. Abel lag auf dem Bett, ein Buch in der Hand und eine Zigarette zwischen den Lippen. Er las die Notiz, die für ihn völlig uninteressant war, und gab die Zeitung mit einer dahingemurmelten Bemerkung zurück. Die Arme auf das Bettgestell gestützt, blieb Silvestre stehen und sah ihn an. Aus dieser Perspektive wirkte der junge Mann kleiner und trotz Zigarette und Dreitagebart wie ein Kind.
    »Haben Sie das Gefühl, festgehalten zu werden?«, fragte Silvestre.
    »Festgehalten?«
    »Ja. Von Tentakeln …«
    »Ach so …«
    Die Bemerkung hatte einen undefinierbaren Tonfall, klang fast geistesabwesend. Abel richtete sich halb auf, sah den Schuster direkt an und fügte langsam hinzu:
    »Nein. Vielleicht vermisse ich Tentakel. Unsere Gespräche haben mich dazu gebracht, über Fragen nachzudenken, die ich eigentlich für erledigt hielt.«
    »Ich glaube nicht, dass sie erledigt sind. Oder zumindest ziemlich schlecht … Wenn Sie der wären, für den man Sie halten soll, hätte ich Ihnen nicht mein Leben erzählt …«
    »Und sind Sie nicht zufrieden?«
    »Zufrieden? Im Gegenteil. Ich glaube, Sie sind ein Gefangener des Überdrusses. Sie haben das Leben satt, Sie glauben, Sie hätten alles gelernt, und sehen nur noch Dinge, die Ihren Überdruss steigern. Sie meinen, ich könnte zufrieden sein? Nicht alles lässt sich so einfach abwerfen. Eine Arbeit, die uns lästig ist, oder eine Frau, die uns noch lästiger ist, kann man leicht loswerden. Aber Überdruss, wie soll man den loswerden?«
    »Das haben Sie mir alles schon in anderen Worten gesagt. Sie wollen das sicherlich nicht noch einmal …«
    »Wenn Sie sich belästigt fühlen …«
    »Nein, nein! Keine Frage …«
    Abel erhob sich mit einem Satz und streckte den Arm nach Silvestre aus. Der Schuster, der sich gerade zurückziehen wollte, blieb stehen. Abel setzte sich auf die Bettkante, den Oberkörper halb Silvestre zugewandt. Sie sahen einander an, ohne zu lächeln, als erwarteten sie, dass etwas Wichtiges geschehe. Der junge Mann sprach es langsam aus:
    »Wissen Sie, dass ich Sie sehr gernhabe?«
    »Das glaube ich Ihnen«, antwortete Silvestre. »Ich habe Sie auch sehr gern. Aber wie es scheint, haben wir Streit …«
    »Es ist meine Schuld.«
    »Vielleicht auch meine. Sie brauchen jemanden, der Ihnen hilft, und ich weiß nicht, ob ich das kann …«
    Abel stand auf, zog die Schuhe an und ging zu einem Koffer, der in einer Ecke stand. Er machte ihn auf, wies auf die Bücher, mit denen er fast bis oben hin gefüllt war, und sagte:
    »Auch in den schlimmsten Situationen habe ich mit keinem Gedanken daran gedacht, sie zu verkaufen. Das sind alle, die ich von zu Hause mitgenommen habe, und außerdem die, die ich in den letzten zwölf Jahren gekauft habe. Ich habe sie immer wieder gelesen und dabei viel gelernt. Die Hälfte von dem, was ich gelernt habe, habe ich vergessen, und die andere Hälfte ist möglicherweise verkehrt. Ob richtig oder verkehrt, Tatsache ist, dass sie nur dazu beigetragen haben, meine Nutzlosigkeit noch offensichtlicher zu machen.«
    »Ich denke, es war gut, dass Sie das gelesen haben … Wie viele Menschen merken ihr Leben lang nicht, dass sie nutzlos sind? Wirklich nützlich sein kann meiner Meinung nach nur, wer gemerkt hat, dass er nutzlos ist. Zumindest besteht nicht die Gefahr, dass er rückfällig wird …«
    »Nützlich, nützlich, ich höre von Ihnen nur dieses Wort. Wie kann ich nützlich sein?«
    »Das muss jeder für sich selbst herausfinden. So wie im Grunde alles im Leben. Ratschläge helfen nichts. Gern würde ich Ihnen Ratschläge geben, wenn sie denn helfen würden …«
    »Und ich wüsste gern, was hinter diesen vagen Worten steckt …«
    Silvestre lachte.
    »Keine Angst. Ich will damit nur sagen, dass niemand das, was er in diesem Leben werden soll, durch Worte wird, die man ihm sagt, und auch nicht durch gute Ratschläge. Wir müssen am eigenen Leib die Wunde erleiden, die uns zu wahrhaftigen Menschen macht. Und dann geht es darum, zu handeln …«
    Abel klappte den Koffer zu. Er drehte sich zum Schuster um und sagte, als spräche er im Traum:
    »Handeln … Wenn alle so handeln wie wir, dann gibt es keine wahrhaftigen Menschen …«
    »Meine Zeit ist vorbei«, antwortete Silvestre.
    »Deshalb ist es für Sie so einfach, mich zu tadeln … Wollen wir eine Partie Dame spielen?«

27
    P aulino war später gekommen als sonst, erst kurz vor elf. Er gab Lídia einen flüchtigen Kuss und

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