Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Sein regloser Ausdruck erinnerte nur entfernt an das verzerrte Gesicht, das sie gesehen hatte. Sie dachte daran, dass sie ihn angespuckt hatte, und bekam Angst, eine Angst, die sie zurückweichen ließ. Caetano bewegte sich. Die Bettdecke rutschte von seinem Bein, worauf dieses sich anwinkelte und sein Geschlecht entblößte. Ekel stieg in einer Welle aus ihrem Magen hoch. Sie floh aus dem Schlafzimmer. Da erst löste sich das letzte Band, das ihre Gedanken gefesselt hatte. Als wollte ihr Kopf die Zeit aufholen, die er verloren hatte, begann er zu rotieren, bis er an einem einzigen, zwanghaften Gedanken hängenblieb: »Was soll ich machen?«
Keine Verachtung mehr, keine Gleichgültigkeit mehr – was sie nun empfand, war Hass. Hass auf ihren Mann und auf sich selbst. Sie dachte daran, dass sie sich ihm genauso rasend hingegeben, wie er sie genommen hatte. Sie ging in der Küche ziellos hin und her. Es war, als befände sie sich in einem Labyrinth. Überall verschlossene Türen und Sackgassen. Wäre es ihr gelungen, unbeteiligt zu bleiben, hätte sie sich als Opfer brutaler Gewalt verstehen können. Sie wusste natürlich, dass sie als Ehefrau sich nicht verweigern durfte, dass Passivität ihre stärkste Form von Verweigerung wäre. Sie hätte sich nehmen lassen können, aber nicht sich hingeben. Doch sie hatte sich hingegeben. Und ihr Mann hatte gemerkt, dass sie sich hingab; er würde das als Sieg werten und sich als Sieger verhalten. Er würde die Regeln festlegen, die er für richtig hielt, und ihr ins Gesicht lachen, wenn sie rebellieren wollte. Ein Moment der Unvernunft – und die Arbeit vieler Jahre war dahin. Ein Moment der Blindheit – und aus Stärke war Schwäche geworden.
Sie musste überlegen, was sie tun sollte. Schnell, bevor er aufwachte, bevor es zu spät war. Jetzt, da ihr Hass frisch und blutrünstig war. Sie hatte ein Mal kapituliert, ein zweites Mal durfte es nicht geschehen. Aber die Erinnerung an das, was sie empfunden hatte, begann sie zu beschäftigen. Bis zu dieser Nacht hatte sie noch nie den Höhepunkt der Lust erreicht. Selbst als sie eine normale Beziehung zu ihrem Mann pflegte, hatte sie niemals dieses heftige Gefühl erlebt, bei dem man den Wahnsinn fürchtet und zugleich herbeiwünscht. Nie zuvor hatte sie, so wie in dieser Nacht, das Gefühl gehabt, vom Strudel der Lust erfasst zu sein, sämtliche Fesseln abgelegt, sämtliche Grenzen überschritten zu haben. Was für andere Frauen ein Aufstieg gewesen wäre, war für sie ein Absturz.
Die Klingel unterbrach sie in ihren Gedanken. Auf Zehenspitzen eilte sie zur Tür, nahm die Milch entgegen und kehrte in die Küche zurück. Caetano war nicht aufgewacht.
Die Lage stellte sich nun deutlich dar. Sie musste sich zwischen Lust und Herrschaft entscheiden. Wenn sie schwieg, würde sie die Niederlage hinnehmen, dafür abermals Momente wie in dieser Nacht erleben, sofern ihr Mann bereit wäre, sie ihr zu gewähren. Wenn sie sprach, riskierte sie, dass er ihr ins Gesicht sagte, wie sie reagiert hatte. Diese Alternativen aufzuzeigen war leicht, sich für eine zu entscheiden, schwierig. Vor kurzem noch hatte sie Ekel empfunden, doch nun rauschten in ihr wie Meereswellen in einer Muschel die Erinnerungen an die sexuelle Ekstase. Sprechen bedeutete, die Möglichkeit für eine Wiederholung zu verlieren. Schweigen hieße, sich den Bedingungen zu unterwerfen, die ihr Mann bestimmen wollte. Justina schwankte zwischen dem erwachten Verlangen und dem Wunsch, zu dominieren. Das eine schloss das andere aus. Wofür sollte sie sich entscheiden? Und mehr noch: Wie weit war es ihr möglich, sich zu entscheiden? Wenn sie dominierte, würde sie dann dem Verlangen widerstehen können, nachdem sie es einmal erfahren hatte? Wenn sie sich unterwarf, wie würde sie die Unterwerfung unter einen Mann ertragen, den sie verachtete?
Das Sonnenlicht dieses Sonntagmorgens strömte durch das Fenster herein. Justina sah die kleinen weißen Wolken mit zerfransten Konturen, die über den blauen Himmel zogen. Gutes Wetter. Licht. Frühling.
Aus dem Schlafzimmer drangen gedämpfte Laute. Das Bett knarrte. Justina erzitterte, die Röte schoss ihr ins Gesicht. Der Gedankengang, dem sie nachgehangen hatte, brach ab. Sie erstarrte und wartete. Wieder knarrte es. Sie ging zur Schlafzimmertür und blickte vorsichtig hinein – ihr Mann lag mit offenen Augen und sah sie. Es gab kein Zurück. Wortlos ging sie hinein. Wortlos sah Caetano sie an. Justina wusste nicht, was sie
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