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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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bewahren können?
    Nach diesen Überlegungen wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Adriana zu. Deren Fröhlichkeit hatte in ihren Ohren schon immer falsch geklungen. Isaura schwieg, Adriana spielte Theater. Aber vielleicht sollte ihr Theater nur Isaura schützen. Amélia wusste keinen Ausweg aus dieser Sackgasse.
    Dann überlegte sie, dass Adriana fast den ganzen Tag außerhalb ihres Blickfelds verbrachte. Sie konnte nicht in ihr Büro gehen, so wie sie in die Bibliothek gegangen war. Vielleicht fand sich dort der Schlüssel zu dem Geheimnis. Wenn aber die Erklärung dort zu finden war, warum ergab sich erst nach zwei Jahren, dass … Diese Überlegung war haltlos – irgendwann ereignen sich die Dinge, und wenn sie sich nicht gestern ereignet haben, heißt dies nicht, dass sie nicht heute oder morgen eintreten. Also entschied sie, die »Sache« habe mit Adriana zu tun und mit ihrem Büro. Sollte sich herausstellen, dass sie sich getäuscht hatte, wollte sie woanders ansetzen. Vorläufig ließ sie Isaura außen vor. Nur deren Tränen konnte sie sich nicht erklären. Es musste etwas Ernstes gewesen sein, was sie in dieser Nacht dazu gebracht hatte, zu weinen und anschließend stumm und traurig zu werden. Etwas Ernstes … Amélia konnte oder wollte sich nicht recht vorstellen, was es gewesen sein mochte. Adriana war ein junges Mädchen, eine junge Frau, und ein ernstes Ereignis im Leben einer Frau, das die Schwester dieser Frau weinen lässt, kann nur … Sie fand den Gedanken abwegig und wollte ihn beiseiteschieben. Doch nun trug alles dazu bei, dem Gedanken Gewicht zu verleihen. Erstens: Adriana war den ganzen Tag außer Haus; zweitens: Hin und wieder verbrachte sie auch Abende außer Haus; drittens: jeden Abend schloss sie sich im Badezimmer ein … Fast schlagartig wurde Amélia bewusst, dass Adriana sich seit jener Nacht nicht mehr im Badezimmer eingeschlossen hatte. Früher war sie immer als Letzte ins Badezimmer gegangen und lange darin geblieben. Jetzt war sie zwar nicht immer die Erste, wartete aber auch selten bis zum Schluss. Und wenn das der Fall war, sagte Amélia sich wieder, dann blieb sie nicht lange darin. Nun wussten sie ja alle, dass Adriana ein »Tagebuch« hatte, eine Kinderei, die niemand richtig ernst nahm, und dass sie es im Badezimmer schrieb. Fand sich vielleicht darin die Erklärung für das ganze Durcheinander? Aber wie sollte sie an den Schlüssel zu der Schublade kommen?
    Jede der vier Frauen hatte eine Schublade nur für sich. Alle anderen waren frei zugänglich, man brauchte sie nur aufzuziehen. Da sie aufeinander angewiesen waren, dieselbe Bettwäsche und dieselben Handtücher benutzten, wäre es unsinnig gewesen, Schubladen abzuschließen. Aber sie alle hatten ihre persönlichen Erinnerungen. Bei Amélia und Cândida waren es alte Briefe, Schleifen ihrer Brautsträuße, vergilbte Fotos, die eine oder andere getrocknete Blumen, mitunter eine Haarlocke. Die privaten Schubladen waren also eine Art Altar, wo sie, wenn sie allein waren und die Sehnsucht übermächtig wurde, andächtig ihren Erinnerungen nachhingen. Die beiden alten Frauen konnten mit einem Blick auf die eigene Schublade mit größter Trefferwahrscheinlichkeit sagen, was die Schublade der anderen enthielt. Doch keine von ihnen hätte erraten können, was sich in den Schubladen der jungen Frauen befand. In Adrianas Schublade lag wenigstens das »Tagebuch«, und Amélia war überzeugt, dass sie darin die Erklärung finden würde. Schon bevor sie darüber nachdachte, wie sie an die Lektüre käme, bedrückte sie, dass sie etwas Verbotenes würde tun müssen. Sie stellte sich vor, was sie empfinden würde, wenn sie erführe, dass man ihre Geheimnisse ausgekundschaftet hatte, ihre ärmlichen Geheimnisse, die ja nichts anderes waren als Erinnerungen an Dinge und Ereignisse, von denen alle wussten. Sie fand, es wäre unverzeihlich. Aber sie dachte auch, dass sie versprochen hatte, das Geheimnis der Nichten aufzudecken, und war nicht bereit, einen Rückzieher zu machen, ausgerechnet nun, wo sie kurz davorstand, das Rätsel zu lösen. Ganz gleich was geschah, sie musste es herausbekommen. Und dabei große Schwierigkeiten überwinden. Als genügte nicht die Überzeugung, dass die Geheimnisse einer jeden von ihnen zu respektieren waren, dass keine von ihnen es wagen würde, in eine Schublade zu greifen, die nicht ihr gehörte, gab es auch noch das Problem, dass Adriana ihren Schlüssel immer bei sich hatte. Wenn sie zu Hause war,

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