Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
steckte sie ihn in die Handtasche, also ausgeschlossen, ihn herauszuholen, die Schublade aufzuschließen und zu lesen, was es da zu lesen gab, ohne dass es jemand merkte. Dass Adriana den Schlüssel vergaß, war wenig wahrscheinlich. Ihn so entwenden, dass sie glaubte, sie habe ihn verloren? Das wäre am einfachsten, doch vielleicht würde sie misstrauisch und würde das Schloss auf andere Weise blockieren. Es gab nur eine Lösung: einen zweiten Schlüssel machen lassen. Dafür musste sie ihn kopieren, und um zu kopieren, musste sie ihn zum Schlosser bringen. Gab es keine andere Möglichkeit? Ihn abzeichnen, natürlich, aber wie?
Amélia dachte angestrengt nach. Sie musste eine Gelegenheit finden, nur wenige Minuten, um den Schlüssel abzuzeichnen. Sie unternahm mehrere Versuche, doch im letzten Moment kam immer jemand dazu. Die vielen Widrigkeiten steigerten noch ihre Neugier. Beim Anblick der verschlossenen Schublade zitterte sie vor Ungeduld. Die Skrupel, die sie bislang verspürt hatte, waren verflogen. Sie musste es herausbekommen, ganz gleich was für Konsequenzen es nach sich ziehen würde. Wenn Adriana etwas getan hatte, wofür sie sich schämen musste, war es besser, das möglichst bald zu erfahren, bevor es zu spät wäre. »Zu spät«, das war es, was Amélia Angst machte.
Sie beharrte auf ihrem Plan und schaffte es. Die Cousinen aus Campolide erwiderten den Besuch, den Cândida und Amélia ihnen vor einiger Zeit abgestattet hatten. Es war Sonntag. Sie blieben den ganzen Nachmittag, tranken Tee und unterhielten sich angeregt. Zum wiederholten Mal wurden Erinnerungen aufgewärmt. Es waren immer dieselben, alle kannten sie, doch alle taten, als hörten sie die Geschichten zum ersten Mal. Adriana war überschwänglicher denn je, und ihre Schwester bemühte sich mehr denn je, fröhlich zu wirken. Cândida ließ sich von der guten Laune der Töchter täuschen und vergaß alles. Aber Amélia vergaß nichts. Als sie glaubte, der Moment sei günstig, stand sie auf und ging in das Zimmer der Nichten. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen öffnete sie Adrianas Handtasche und nahm die Schlüssel heraus. Es waren fünf. Zwei erkannte sie, den Haustürschlüssel und den Wohnungsschlüssel. Von den anderen war zwei mittelgroß und einer klein. Sie zögerte. Sie wusste nicht, welcher Schlüssel zur Schublade gehörte, auch wenn sie meinte, es müsse einer der beiden fast gleichen sein. Bis zur Schublade waren es nur wenige Schritte. Sie konnte die Schlüssel ausprobieren, fürchtete aber, mit einem Geräusch auf sich aufmerksam zu machen. Also beschloss sie, alle drei abzuzeichnen. Das war nicht so einfach. Der Bleistift rutschte ihr aus den Fingern und wollte nicht recht dem Umriss der Schlüssel folgen. Sie hatte ihn lang und dünn angespitzt, damit ihre Zeichnung möglichst getreu wurde, doch die Hände zitterten ihr so sehr, dass sie fast aufgab. Aus dem Wohnzimmer nebenan drang Adrianas Lachen – sie erzählte die Geschichte mit dem Läufer, den die Cousinen aus Campolide noch nicht kannten. Alle lachten laut, und ihr Lachen übertönte das leise Klicken, mit dem sich die Handtasche schloss.
Als nach dem Abendessen aus dem Radio, das sie im Zuge der noch vom Nachmittag herrschenden guten Stimmung eingeschaltet hatten, ein Nocturno von Chopin säuselte, äußerte sich Amélia zufrieden darüber, dass die Mädchen so nett zueinander gewesen waren.
»Siehst du jetzt, dass du dir das alles eingebildet hast?«, sagte Cândida lächelnd.
»Ja, ja …«
31
M it ihrem monatlichen Geld in der Tasche, die Scheine säuberlich gefaltet und ins speckige Portemonnaie gesteckt, trank Lídias Mutter eine Tasse Kaffee. Das Strickzeug, mit dem sie sich abends beschäftigte, hatte sie auf das Bett gelegt. Sie kam jeden Monat zweimal, einmal wegen des Geldes und das zweite Mal aus Zuneigung. Da sie Paulino Morais’ Gewohnheiten kannte, erschien sie nur an bestimmten Tagen der Woche: dienstags, donnerstags oder samstags. Sie wusste, dass sie weder an diesen noch an anderen Tagen gern gesehen war, doch sie konnte es nicht sein lassen. Um mit »erhobenem Kopf« leben zu können, brauchte sie die monatliche Unterstützung. Und da ihre Tochter in guten finanziellen Verhältnissen lebte, hätte es keinen guten Eindruck gemacht, wenn sie ihr die Unterstützung gestrichen hätte. Sie zweifelte nicht daran, dass Lídia von sich aus nichts tun würde, um sie zu unterstützen, deshalb brachte sie sich selbst in Erinnerung. Und
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