Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
und drang bis in ihren Nacken, machte ihr auf unangenehme Weise klar, dass sie nur ein Nachthemd unter ihrem Anorak trug. Sie lief langsam in den Wald hinein, suchte nach verräterischen Spuren, lauschte angestrengt und gab schon nach wenigen Minuten auf. Ihre Suche war sinnlos. Wenn sie wirklich jemand beobachtete und nicht entdeckt werden wollte, wäre es ein Leichtes für ihn, sich in dieser Gegend zu verstecken.
Entmutigt kehrte sie ins Haus zurück. Alex schlief immer noch und merkte nicht, wie sie den Revolver auf die Kommode legte, sich auszog und zu ihm unter die Decken kroch. Er zuckte lediglich zusammen, als ihr kaltes Bein auf seinem Oberschenkel zu liegen kam, schlief aber ruhig weiter. Auch Clarissa war schon bald wieder eingeschlafen und kehrte in ihren angenehmen Traum zurück. Am nächsten Morgen erwähnte sie ihren Ausflug mit keinem Wort.
Zu dem Fest im Roadhouse musste sie ihren Mann erst überreden. Obwohl er längst davon wusste, zierte er sich lange und erfand eine Ausrede nach der anderen, doch Clarissa ließ nicht locker: »Du darfst dich nicht drücken! Dolly veranstaltet die Party vor allem deinetwegen und hat alle wichtigen Leute aus Fairbanks eingeladen. Was meinst du, was die sagen, wenn der Ehrengast fehlt? Außerdem bringt dich die Party auf andere Gedanken. Und keine Angst, ich drehe bestimmt nicht durch, wenn du einen Whiskey zu viel trinkst.« Sie lächelte verschmitzt. »Jerry bringt den feinen irischen Whiskey mit, und seine Musik ist auch nicht zu verachten. Die magst du doch so gern.«
Am Samstag stieg Clarissa bereits am frühen Morgen zum Roadhouse hinab, um Dolly bei den Vorbereitungen zu helfen. Zu ihrer Überraschung lagen die Huskys ihrer Freundin im Schnee, und der Schlitten stand aufrecht an die Wand gelehnt. Ihr Mann musste während der Nacht nach Hause gekommen sein. Ein möglicher Grund, warum sie aus dem Schlaf geschreckt war. Vielleicht war sein Schatten an den Bäumen vorbeigehuscht, oder der böige Wind hatte das Bellen seiner Hunde und das Scharren der Schlittenkufen zu ihr herübergetragen und ihr das Gefühl gegeben, eine Gefahr wäre im Anmarsch.
»Jerry schläft seinen Rausch aus«, beantwortete Dolly ihren fragenden Blick. »Wie ich vermutet habe … Er hat mit seinen Iren gefeiert. Und deiner?«
»Ist auch wieder zu Hause und schläft noch.«
»Männer!«, stöhnte Dolly.
Doch als die ersten Gäste eintrafen, war Jerry wieder munter und spielte zur Überraschung der meisten Leute ein klassisches Stück, das nicht nur die eintreffenden Iren erstaunt zum Klavier blicken ließ. »Die Sonate Nr. 3, Opus 58 von Frederic Chopin«, erklärte Jerry mit dem für ihn typischen Grinsen. Er freute sich wie immer diebisch, wenn er Gäste, die seine klassische Ader noch nicht kannten, mit einem anspruchsvollen Stück überraschen konnte.
»Ich glaube, Alex braucht eine Eskorte«, flüsterte Clarissa ihrer Freundin zu, als E. T. Barnette, der Gründer und amtierende Bürgermeister von Fairbanks, und seine Frau Isabelle erschienen waren. »Wahrscheinlich hat er Angst, dass er das Tanzbein schwingen muss, wenn dein Ire richtig loslegt.«
Sie zog ihren Anorak an und stapfte zu ihrem Blockhaus hinauf. Alex stand in seiner besten Kleidung bei den Hunden und kraulte Emmett, blickte schuldbewusst zu ihr auf, als sie ihn erreichte. »Jetzt wird’s Ernst, oder?«
»Wenn ich nicht hoch und heilig versprochen hätte, Rücksicht auf dich zu nehmen, würde ich dir jetzt eine Standpauke halten!«, sagte sie. »Aber du hast Glück, ich wollte mir sowieso noch was Besseres anziehen.« Sie ging ins Haus, zog ihren schwarzen Rock und die gute weiße Bluse an und kämmte noch einmal ihre Haare, obwohl der Wind sie sowieso wieder durcheinanderbringen würde. »Und jetzt benimm dich endlich wie ein Gentleman, du ungehobelter Hinterwäldler!« Sie hängte sich lachend bei ihm ein, und sie stapften gemeinsam zum Roadhouse hinab, sehr zum Vergnügen von Dolly, die sie mit einem Lächeln in der offenen Tür erwartete. »Sehr schick, ihr beiden.«
Dolly hielt gerne Reden, und so stieg sie auch diesmal wieder auf einen Schemel und brachte ihre Gäste mit erhobenen Händen zum Schweigen. Ein paar Sekunden lang war noch die Sonate von Frederic Chopin zu hören, dann nahm Jerry die Finger von den Tasten, und Dolly hieß ihre Gäste auf ihre fröhliche Art willkommen. »Besonders freue ich mich, dass der Mann, für den wir diese Party veranstalten, den Mut gefunden hat, sich unter Menschen
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