Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
Wälder. Auch auf diesem Pfad waren Schlittenspuren zu erkennen, und Clarissa brauchte nicht lange, um zu erkennen, zu welchem Schlitten sie gehörten. »John!«, flüsterte sie. Der greise Indianer, der Läuft-in-den-Wolken hieß, sich aber John nannte, weil kein Weißer seinen indianischen Namen aussprechen konnte. Der alte Mann, der ihr vor einigen Monaten das Leben gerettet hatte, und seine Frau, die gutherzige Rose, eine »Kräuterhexe«, wie sie sich selbst nannte, die sie gesund gepflegt und ihr das Amulett geschenkt hatten, das sie immer noch um den Hals trug. Sie griff danach und ließ den aus Hirschgeweih geschnitzten Kopf durch ihre Finger gleiten. In einer einsamen Hütte in den Ausläufern der White Mountains lebten die beiden, meilenweit von der Zivilisation und auch von ihren eigenen Leuten entfernt.
Doch wenn Clarissa geglaubt hatte, den hindernisreichen Weg durch die Felsen antreten zu müssen, hatte sie sich getäuscht. Kaum war das Heulen des Wolfes verstummt, erklang das Scharren von Schlittenkufen, und John kam ihr mit seinem Schlitten entgegen. Er trug traditionelle Kleidung aus Karibuleder, hochschäftige Mokassins und eine Fellkappe mit Ohrenschützern. Unter der Kopfbedeckung hingen zwei weiße lange Zöpfe bis auf die Schultern.
»Ich wusste, dass ich dich hier treffen würde«, begrüßte er Clarissa, nachdem sie beide ihre Schlitten angehalten hatten. Er verriet ihr nicht, ob er Bones ebenfalls gehört hatte. »Wie ich sehe, trägst du immer noch unser Amulett.«
»Es hat mich auf der Suche nach meinem Mann beschützt.«
Er nickte schwach. »Ich habe davon gehört. Selbst in der tiefsten Wildnis redet man von der tapferen Frau, die ihren Mann zum Leben erweckt hat.«
»Nicht ich, sondern der Arzt in Seward.«
»Du hast ihm das Leben gerettet, Schwester«, ließ sich John nicht beirren, »doch jetzt braut sich neues Unheil über deinem Kopf zusammen, und vor dir liegt wieder ein langer und beschwerlicher Weg. Dein Mann irrt durch die dunklen Schluchten, die sich nach der Operation in seinen Träumen auftun, und findet nicht ins wahre Leben zurück. Du brauchst Hilfe, denn auch von einem mächtigen weißen Mann droht dir Gefahr, und selbst du bist nicht stark genug, um die bösen Geister zu besiegen, die sich auf seltsame Weise gegen dich verschworen haben. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, Schwester.«
»Und wie willst du das tun, John?«
»Rose und ich werden deinen Mann bei uns aufnehmen. Sein körperliches Leiden konnte der berühmte Doktor heilen, doch um die bösen Geister aus seinem Leben zu vertreiben, braucht man das geheime Wissen eines Mannes, der mit den Geistern reden kann, und einer Medizinfrau, wie Rose eine ist.«
»Ich muss es allein schaffen, John.«
»Und warum bist du dann hier?«
Clarissa überlegte eine Weile. Anscheinend hatte es Bones darauf angelegt, sie und den alten Indianer zusammenzubringen. »Und wie stellst du dir das vor? Alex ist bestimmt nicht damit einverstanden. Soll ich ihn zwingen?«
»Das wird nicht nötig sein. Alles kommt, wie es kommen muss.«
Mit diesen Worten wendete John seinen Schlitten und hielt noch einmal neben Clarissa an. »Hüte dich vor Dezba, der Hexe!«, sagte er so leise, als vermutete er, die indianische Hexe würde sich in einem Gebüsch verstecken. »In meinen Träumen habe ich gehört, wie sie deinen Namen gerufen hat.«
»Aber … aber ich habe doch gar kein Kind.«
Er musterte sie eingehend. »Der Tag wird kommen.«
20
In Gedanken versunken lenkte Clarissa den Schlitten auf den Trail zurück. Die Warnung des greisen Indianers vor der Hexe hallte in ihren Ohren nach, noch immer spürte sie seinen prüfenden Blick, der langsam über ihren Körper glitt und an ihrem Bauch hängen blieb. Bei jedem anderen Mann hätte sie diese eingehende Musterung unverschämt und anmaßend gefunden, doch John war zu alt und weise, um Hintergedanken zu haben, und folgte lediglich der inneren Stimme aus seinen Träumen. Er war ein Medizinmann, ein heiliger Mann, der mit den Geistern in Verbindung stand und mehr wusste als die meisten anderen Menschen. Sie hatte lange genug bei Indianern gelebt, um eine solche Behauptung nicht als bloßes Hirngespinst oder Hokuspokus abzutun.
War sie tatsächlich schwanger?
Sie blickte unwillkürlich an sich herunter und legte eine Hand auf ihren Bauch, spürte und fühlte aber nichts, durch den dicken Anorak schon gar nicht. Sie wartete, bis ein ruhiges Teilstück des Trails kam und der Schlitten
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