Clarissa - Wo der Himmel brennt
niemand gesehen. In den Felsen beim Kiesstrand, sagen Sie? Warum sollte sich da jemand herumtreiben? Es sei denn, er will nicht gesehen werden. Viel zu glatt, die Felsen nach dem Schneeregen.« Er blickte auf den Stiefel. »Seiner?« Und als sie nickte: »Wenn er in dem kalten Wasser baden wollte, ist er ein härterer Bursche, als ich dachte. Tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
In der Stadt suchte Clarissa nach dem Polizisten. Der Constable, ein betagter Mann mit einem respektablen Bauch, der in seiner Jugend ein kühner Draufgänger gewesen sein musste, war morgens meist in dem namenlosen Café am Hafen zu finden. Auch an diesem Morgen saß er an seinem Stammplatz am Fenster. Als Clarissa an seinen Tisch trat, blickte er überrascht von einer drei Monate alten Zeitung auf und sagte: »Guten Morgen, Ma’am. Ich möchte mich noch einmal für die Einladung bedanken. Die Hochzeitsfeier war großartig.« Er bemerkte den Stiefel. »Sind Sie dienstlich hier, Ma’am?«
»Alex … Mein Mann … Er ist verschwunden«, sagte sie. »Das ist einer seiner Stiefel … Ich hab ihn am Kiesstrand gefunden. Ich mache mir Sorgen, Constable. Bis heute Nacht war Alex noch im Krankenzimmer bei Doktor Weinbauer. Niemand hat gesehen, wie er das Zimmer verlassen hat. Ich habe überall nach ihm gesucht, selbst auf dem Hügelkamm … Was soll ich nur tun?«
»Nun setzen Sie sich doch erst mal«, forderte der Constable sie auf. Er drehte einen der leeren Becher um, die auf dem Tisch standen. »Kaffee?«
»Nein, danke.« Sie setzte sich zögernd. »Sie müssen was unternehmen, Constable! Ich habe Angst, dass Alex etwas zugestoßen ist. Allein kann ich ihn unmöglich finden. Stellen Sie ein Aufgebot zusammen, und lassen Sie nach ihm suchen! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Tun Sie was, Constable!«
Der Constable legte die Zeitung beiseite und lächelte nachsichtig. Mit seinem buschigen Schnurrbart sah er wie der Buffalo Bill aus ihren Magazinen aus. »Ich würde mir da keine großen Gedanken machen, Ma’am. Sie haben gestern geheiratet, also wird er doch kaum das Weite gesucht haben, und wenn Sie glauben, dass er ins Meer …« Er winkte ab. »Vergessen Sie es, Ma’am. Alex ist ein lebensfroher Bursche. Ein Fallensteller … Die kommen manchmal auf seltsame Ideen. Vielleicht wollte er sich nach der Aufregung frischen Wind um die Nase wehen lassen. Ein Tag im Krankenbett ist doch die Hölle für einen Mann wie ihn, das müssten Sie doch am besten wissen. Sie werden sehen, in ein oder zwei Stunden taucht er wieder bei Ihnen auf.«
»Er ist seit dem frühen Morgen verschwunden, Constable! Natürlich weiß ich, wie …« Sie suchte nach dem passenden Wort. »… wie eigenwillig sich Männer wie er benehmen können, und es würde mich auch nicht wundern, wenn er zu früh aufgestanden wäre und frische Luft geschnappt hätte. Aber er würde doch niemals auf die Uferfelsen klettern und seinen Stiefel ausziehen.«
»Oh, ich hab schon ganz andere Sachen erlebt, Ma’am. Erinnern Sie sich an den alten Trapper, der vor drei Jahren bei uns auftauchte?« Er sah das Unverständnis in ihren Augen und erklärte: »Stimmt, damals waren Sie und Alex ja noch gar nicht hier. Ein Oldtimer, er nannte sich Old Gabe und hatte seit zehn Jahren keine Stadt mehr gesehen. Der rannte mitten in der Nacht aus dem Hotel und floh in die Berge, weil er Angst hatte, die Decke würde ihm auf den Kopf fallen. Ich weiß, so weit würde Alex niemals gehen, aber …«
»Es muss ihm was passiert sein!«, unterbrach ihn Clarissa. »Alex weiß, dass ich mir Sorgen machen würde, wenn er so lange wegbleibt, und würde so etwas niemals tun! Sie müssen was unternehmen, Constable, jetzt gleich!«
Der Constable überlegte eine Weile. »In Ordnung, ich sehe mich ein wenig um. Wenn er bis morgen früh nicht aufgetaucht ist, starte ich eine Suchaktion. Früher geht es leider nicht. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß.« Er griff nach der Zeitung und schlug sie auf. »Nichts für ungut, Ma’am.«
»Bis morgen kann ich nicht warten!«, fauchte Clarissa. Sie stand so plötzlich auf, dass ihr Stuhl umkippte, und verließ mit festen Schritten das Lokal.
Auf dem Gehsteig schnappte sie nach Luft. Sie fühlte sich hilflos, am liebsten hätte sie die Kirchenglocke geläutet und die ganze Stadt zusammengerufen, um nach Alex zu suchen. Wenn alle nach ihm suchten, mussten sie ihn doch finden. Nur widerwillig gestand sie sich ein, dass der Constable auch recht
Weitere Kostenlose Bücher