Clarissa - Wo der Himmel brennt
haben konnte, zumindest teilweise, und Alex vielleicht nur »frische Luft schnappen« wollte und irgendwann an diesem Abend zurückkehren würde. Sie musste zugeben, dass auch er seltsame Angewohnheiten hatte. Während er seine Fallen abfuhr, übernachtete er schon mal länger als nötig in der Wildnis, nur um das Gefühl vollkommener Einsamkeit genießen zu können. Wollte er noch einmal allein sein, bevor sie sich zu den zwei- oder dreihundert Goldsuchern an Bord des überfüllten Dampfschiffes nach Alaska gesellten?
Aber wie hatte er seinen Stiefel verloren?
In Gedanken versunken kehrte sie zum Haus des Doktors zurück. Als sie erfuhr, dass er inzwischen nicht aufgetaucht war, ging sie zu Maggie und Mary Redfeather in die Pension, lief wortlos an ihnen vorbei und fand auch keine Zeit, nach dem verletzten Smoky zu sehen. Unfähig, die Freundinnen mit ihrem Schmerz zu belasten, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein. Sie stellte den Stiefel so vorsichtig auf die Anrichte, als wäre er aus Porzellan, und legte sich aufs Bett. Dort starrte sie aus leeren Augen zur Decke empor und beobachtete, wie immer dunklere Schatten durch das Fenster krochen und sich unheilvoll im ganzen Raum ausbreiteten. Hinter dem Haus begannen die Huskys zu heulen, immer lauter, bis auch die anderen Hunde in der Stadt einfielen und das perfekte Begleitkonzert zu ihren quälenden Gedanken lieferten.
Als die Pensionswirtin eine Stunde später an die Tür klopfte und sie zum Abendessen rief, antwortete sie nur widerwillig. »Ich hab keinen Hunger!«
»Aber du musst etwas essen! Wie ich dich kenne, hast du den ganzen Tag nichts in den Magen bekommen.« Mary Redfeather traf keine Anstalten, nach unten zu gehen. »Mach dir keine Sorgen, Clarissa! Alex taucht bestimmt wieder auf. Er lässt dich nicht im Stich, dazu liebt er dich viel zu sehr. Du wirst sehen, für sein Verschwinden gibt es eine ganz normale Erklärung. Komm runter, Clarissa! Smoky sehnt sich auch schon nach dir. Versteck dich nicht!«
Sie stand auf und öffnete die Tür. Das aufmunternde Lächeln der Pensionswirtin beantwortete sie mit einer eher bedrückten Miene, sie fügte sich aber und folgte ihr nach unten. Smoky winselte dankbar, als sie sich zu ihm hinabbeugte und ihn vorsichtig in den Arm nahm und sein dichtes Fell streichelte. »Heute geht es dir schon viel besser, nicht wahr?«, sagte sie. »Keine Angst, in ein paar Tagen spürst du kaum noch was von deiner Verletzung.«
In der Küche warteten die Pensionswirtin und Maggie auf sie. Ihre indianische Freundin hatte beim Kochen geholfen und bereits den Tisch gedeckt. Es gab Elcheintopf mit Weißbrot und einen von Mary Redfeathers berühmten Tees. Nachdem sie von dem erfrischenden Tee gekostet hatte, stocherte sie ein wenig in dem Eintopf herum und sagte: »Seid mir nicht böse, aber ich habe wirklich keinen Hunger.« Sie legte seufzend ihr Besteck hin. »Wenn ich nur wüsste, wo er steckt! Ich kann doch nicht ohne ihn nach Alaska fahren.«
»Er kommt zurück«, erwiderte Maggie, »er kommt bestimmt zurück.«
In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Immer noch angezogen, ging Clarissa unruhig in ihrem Zimmer auf und ab, die Sorge um Alex wie eine schwere Last im Nacken, und blieb alle paar Schritte am Fenster stehen und blickte suchend in die Nacht hinaus. Alex war nirgendwo zu sehen. Die Hügel lagen verlassen im blassen Mondlicht, und die vertraute Stimme, nach der sie sich so sehnte, blieb im Verborgenen. Selbst in der Stadt war es in dieser Nacht ungewöhnlich ruhig, nicht einmal das mechanische Klavier im Saloon erklang, als wollte man ihre angespannte Ruhe selbst dort nicht stören. Das Meer zog sich scheinbar endlos und blass schimmernd bis zum Horizont.
Es war schon nach Mitternacht, als sie endlich Ruhe fand und zumindest für ein paar Minuten die Augen schließen konnte, doch schon wenig später riss sie ein dumpfes Tuten aus dem Schlaf, das Signal des Dampfschiffes, das sie nach Alaska bringen sollte und ungefähr eine halbe Meile vor der Küste den Anker warf. Direkt vor der Küste war das Wasser zu flach und zwang alle größeren Schiffe, weiter entfernt zu ankern. Die Passagiere und die Fracht wurden in flachen Booten transportiert, in Port Essington stiegen jedoch selten Passagiere aus, vor allem jetzt nicht, wo alles zu den Goldfeldern wollte.
Clarissa war sofort hellwach und ging zum Fenster. Sie sah die Positionslampen des Dampfers in der Ferne schimmern. Im Mondlicht waren der dunkle Rumpf und
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