Clarissa - Wo der Himmel brennt
neugierig, glaubte zu erkennen, dass er von einem Mantel stammte. Ein Mantel, wie ihn Dolly getragen hatte. Jagte sie doch kein Phantom? War Dolly tatsächlich hier gewesen? War sie ebenfalls gestürzt und hatte sich dabei den Mantel aufgerissen?
Sie kniff die Augen gegen den Schneeregen zusammen und suchte die Gegend ab. Außer den Baumstümpfen waren keine dunklen Flecken im Schnee zu erkennen. Wenn sie wirklich gestürzt war, hatte sie sich wieder aufgerafft und war weitergelaufen. »Dolly!«, rief Clarissa in den Wind. »Dolly! Bist du hier irgendwo?«
Sie bekam keine Antwort, sondern hörte nur das Rauschen des Windes in den nahen Bäumen und das Knirschen des Schnees, als sie vorsichtig weiterlief. »Dolly! Wo bist du, Dolly?« Immer wieder rief sie jetzt den Namen der Engländerin, denn wenn sie diesen Weg genommen hatte, und jetzt sprach alles dafür, konnte sie nicht weit sein. Dafür war das Gelände viel zu zerklüftet und unübersichtlich und sie zu unerfahren und aufgebracht, um schon vollkommen außer Reichweite zu sein. Doch Clarissa bekam keine Antwort.
Unter den Bäumen verschnaufte sie einen Augenblick. Sie klopfte sich den Schnee vom Mantel und musste plötzlich lachen, weil sie einen Rock und nicht die Männerhosen trug, die sie sonst anzog, wenn sie in den Wäldern unterwegs war. Alex fand sie auch in ihrer Wildnis-Kleidung attraktiv, das hatte er ihr viele Male beteuert, und schmunzelte eher, wenn sie Rock und Bluse oder ein Kleid wie die Frauen in der Stadt trug. Auch deshalb hatten sie darauf verzichtet, sich nach der Trauung fotografieren zu lassen, beim Anblick von Alex in seinem geliehenen Anzug und ihr in ihrem weißen Brautkleid hätten sie doch nur lachen müssen, so schön das Kleid, das ihre indianische Freundin für sie genäht hatte, auch war. Wie eine Prinzessin hätte sie darin ausgesehen, hatte man ihr gesagt, doch Alex mochte sie in ihrer einfachen Wildnis-Kleidung lieber. »Glaub mir, du siehst auch in Hosen wie eine Prinzessin aus.«
Sie wartete, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel zwischen den Bäumen gewöhnt hatten, und tastete sich vorsichtig durch den Wald. »Dolly! Dolly! Wo bist du, Dolly?«, rief sie alle paar Schritte, blieb immer wieder stehen und wartete auf Antwort. Sie hielt sogar den Atem an, um sie besser hören zu können, falls sie sich tatsächlich meldete. Zum leisen Rauschen des Windes in den Baumkronen, das im Wald noch deutlicher zu hören war, kam jetzt das leise Gurgeln eines Flusses, des Skaguay Rivers, wie sie wusste, der irgendwo in einem fernen Gletschersee entsprang und bei Skaguay in den Ozean mündete.
Und noch ein Laut drang an ihre Ohren: Die verzweifelten Schreie einer Frau, die sich in höchster Gefahr befinden musste. Leise nur und im Rauschen des Windes kaum auszumachen, aber eindeutig die Schreie einer Frau.
»Dolly!«, flüsterte sie entsetzt.
Sie beschleunigte ihre Schritte und rief jetzt laut: »Dolly! Dolly! Ich komme!« Sie achtete nicht mehr auf das Gestrüpp, das ihr im Weg war und ihr während des Laufens ins Gesicht schlug, sondern fluchte lediglich, als sie über einen abgebrochenen Ast stolperte und zu Boden stürzte. Sie rappelte sich sofort wieder auf und rannte weiter in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Sie klangen jetzt lauter und bedrohlicher, übertönten sogar das Rauschen des Flusses und brachten sie dazu, noch schneller durch den Wald zu hetzen, bis sie das Ufer erreichte und sich gerade noch rechtzeitig an einem Baum festhalten konnte, um nicht über das Steilufer in die Stromschnellen zu stürzen.
Im selben Augenblick sah sie Dolly, eine dunkle Gestalt, die ungefähr fünfzig Schritte weiter nördlich über dem Fluss hing und sich mit einer Hand an einem Seil und der anderen an der teilweise abgerissenen Planke einer altersschwachen Seilbrücke festhielt. Die baufällige Brücke war in der Mitte durchgebrochen, und Dolly hing am kürzeren Ende, das auf Clarissas Seite vom Ufer baumelte und gefährlich über dem schäumenden Wasser schwankte.
Clarissa verlor keine Zeit. »Halte durch, Dolly!«, rief sie. »Ich bin gleich bei dir!« Sie rannte am Ufer entlang zur Brücke und erkannte sofort, wie bedrohlich die Lage der Engländerin war. Die Planke, an die sie sich mit der rechten Hand klammerte, hing nur noch an einem Nagel, der sich bereits verbogen hatte und jeden Augenblick drohte, aus dem Holz zu brechen, und das Seil, das sie mit der anderen Hand festhielt, löste sich bereits in seine
Weitere Kostenlose Bücher