Clarissa - Wo der Himmel brennt
Bestandteile auf. Unter ihr stürzte der Fluss über kantige Felsen, wild und ungestüm und eiskalt von den Gletschern, in denen er entsprang.
»Dolly! Dolly! Was machst du bloß für Sachen?« Clarissa überlegte nur kurz, legte sich dann flach auf die Uferfelsen und streckte die Arme nach Dolly aus. Keine Chance, sie zu erreichen! Sie schob sich weiter nach vorn, hielt sich mit der linken Hand an einem Felsbrocken fest und robbte so weit wie möglich über die Uferböschung hinweg, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor und drohte, ebenfalls nach unten zu fallen. Sie rammte ihre rechte Stiefelspitze in den verharschten Schnee, der auch am Ufer noch teilweise die Felsen und die dunkle Erde bedeckte, und griff mit dem rechten Arm weit nach unten. Doch sie konnte lediglich die Fingerspitzen der stöhnenden Engländerin berühren. Als Clarissa den Halt verlor und nach vorn rutschte, zog sie rasch ihren Arm zurück und brachte sich in Sicherheit. »So geht es nicht«, rief sie.
Dolly war bereits am Ende ihrer Kräfte. »Beeil dich!«, rief sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich … Ich kann nicht mehr! Ich … Ich hab keine Kraft mehr!«
Clarissa suchte hektisch nach einem Ausweg. Ein Seil, sie brauchte ein Seil, aber das gab es in dieser Wildnis nicht. Ein abgebrochener Ast, an dem sie sich festhalten konnte. Sie blickte sich suchend um und kam plötzlich auf eine bessere Idee. In Windeseile und ungeachtet des kalten Windes und des Schneeregens schlüpfte sie aus ihrem Mantel. Sie zog an dem Stoff, nickte zufrieden, als sie spürte, wie fest er war, und legte sich erneut auf den Boden. Wieder hielt sie sich mit einer Hand an dem Felsbrocken fest, mit der anderen packte sie den Mantel am rechten Ärmel und ließ ihn nach unten baumeln. »Halt dich am Ärmel fest, Dolly!«, rief sie nach unten. »Ich ziehe dich hoch!«
Dolly hatte noch nicht einmal versucht, nach dem Ärmel zu greifen, als die Planke, an der sie sich mit einer Hand festhielt, mit einem hässlichen Knacken abriss. Sie stieß einen lauten Schrei aus und griff mit der freien Hand nach dem Seil, erreichte dadurch aber nur, dass die Überreste der Brücke ins Schwingen gerieten, und die Gefahr, dass es riss, noch größer wurde.
Entsetzt beobachtete Clarissa, wie Dolly gegen einen Uferfelsen prallte und vor Schmerzen aufschrie, sich aber weiter an das Seil klammerte und stöhnend zur anderen Seite schwang, erneut mit einem Knie gegen einen Felsen stieß, diesmal so fest, dass sie den Halt verlor und eine Hand von dem Seil nehmen musste. Sie stöhnte vor Schreck, versuchte mit der freien Hand, wieder nach dem Seil zu fassen und griff mehrfach ins Leere. Dabei verbrauchte sie viel Kraft und rutschte weiter bedrohlich nach unten. Die Angst, ins tosende Wasser zu fallen, erstickte ihre Schreie und ihr Stöhnen, und verzerrte ihr Gesicht zu einer Maske voller Grauen und Todesangst. »Hilf mir! Hilf mir, Clarissa!«, rief sie so leise und heiser, dass Clarissa sie nicht mehr verstand.
Clarissa erkannte, dass ihr kaum noch Zeit blieb. Das Brückenseil, an dem Dolly hing, begann bereits zu fasern und sich in seine Bestandteile aufzulösen. »Greif nach dem Mantel!«, rief sie ihr zu. »Pack den Ärmel! Erst mit der freien und dann mit der anderen Hand! Schnell! Ich halte dich fest, Dolly!«
»Ich … Ich kann nicht, Clarissa!«
»Natürlich kannst du! Mach schon!«
Das Seil wurde immer dünner und rutschte eine Handbreit nach unten, was Dolly erneut aus dem Gleichgewicht brachte. Sie schwang immer noch hin und her, schaukelte zu stark, um den Mantel fassen zu können. Zweimal versuchte sie es, beide Male mit der freien Hand, und beide Male griff sie weit daneben.
»Beim nächsten Mal klappt es!«, machte Clarissa ihr Mut. Sie versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, wollte Dolly nicht unnötig aufregen und ihr nicht das Gefühl geben, es gäbe nur noch diese eine Chance. Doch genauso war es. Lange würde das Seil nicht mehr halten, ein paar Sekunden vielleicht, dann würde sie nach unten sacken und den Mantel nicht mehr zu fassen bekommen. »Ist keine große Sache, Dolly! Du schaffst es, ich weiß das.«
Dolly konzentrierte sich und wartete, bis sie wieder an dem Mantel vorbeischwang, bekam den Ärmel zuerst mit der freien und dann mit der anderen Hand zu fassen, schrie vor Angst, als der Mantel zu schwingen begann, prallte noch einmal gegen die Felsen und verzog das Gesicht vor Schmerzen.
»Ich hab dich!«, rief Clarissa. »Halt dich gut fest, ich
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