Clarissa
Mitgefühl. »Könntest du uns vielleicht etwas zu essen besorgen, Clarissa? Ich fürchte, ich sterbe fast vor Hunger. «
Sobald die Brüder unter sich waren, wandte Raine sich Stephen zu. »Warum bist du hierhergekommen? Doch nicht in der Absicht, dich zwischen mich und meine Frau zu stellen? «
»Jemand muß das tun«, gab Stephen gereizt zurück. »Ihr Herz leuchtet aus ihren Augen. Kannst du ihr nicht verzeihen? Sie weiß nicht, welche Regeln für unseren Stand gelten, und Frauen haben so seltsame Vorstellungen von Ehre. Wie ich hörte, hast du noch nicht einmal deine Tochter gesehen. Sie ist dein Ebenbild. «
Raine ließ sich von den Worten seines Bruders nicht beirren: »Warum hast du Chatworth mitgebracht? «
»Aus dem Grund, den ich bereits nannte: er möchte bei dir das Waffenhandwerk lernen. Dem König wird es nicht gefallen, wenn du einen Edelmann dazu ausbildest, mit einem anderen Edelmann zu kämpfen. Und was ist an diesem Gerücht, daß du eine Armee aus Kriminellen zusammenstellst, um den König zu stürzen? «
Raine lachte lauthals bei dieser Frage. »Wer hat dir denn diesen Bären aufgebunden? «
»Pagnell von Waldenham hat König Heinrich berichtet, daß du ihn stürzen willst. Hast du das noch nicht gehört? Ich dachte, Clarissa kam hierher, um dich zu warnen. Die Ohren des Königs werden täglich mit Lügengeschichten von den Montgomerys gefüttert. «
»Clarissa hielt es nicht für passend, mich zu warnen«, sagte Raine.
»Und ich bin überzeugt, du hast dich zu ihr gesetzt und sie freundlich gefragt, warum sie ihr Kind im Stich gelassen habe und die Bequemlichkeiten von Gavins Haushalt aufgab, um in deiner Nähe hier in diesem kalten Wald zu leben. «
»Ich habe dich nicht gebeten, dich in mein Privatleben einzumischen. «
Stephen zuckte mit den Achseln. »Ich kann mich an ein paar Tritte erinnern, die ich bekam, als Alicia und ich Eheprobleme hatten. «
»Und nun ist alles eitel Sonnenschein bei dir, nicht wahr? « sagte Raine mit hochgezogener Augenbraue.
Stephen räusperte sich. »Wir haben… äh… hin und wieder ein paar Meinungsverschiedenheiten; doch in wesentlichen Dingen sind wir uns einig. «
»Ich würde gern Alicias Version in dieser Sache hören«, murmelte Raine, ehe er das Thema wechselte. »Hast du Miles gesehen? «
Clarissas Erscheinen ersparte Stephen die Antwort auf die Frage. Sie kam mit einem Tablett herein, gefolgt von Joan, die ein zweites Tablett trug. Stephen wollte Raine nicht sagen, daß sein Problem mit Frauen lächerlich war im Vergleich zu Miles’ Affäre.
Sobald Clarissa merkte, daß Joan sich wegen Stephen wie eine rossige Stute aufführte, schickte sie die Magd aus dem Zelt. Das Mahl nahm einen etwas peinlichen Verlauf ein, da Raine und Clarissa zum erstenmal, seit sie in den Wald zurückkehrte, beim Essen zusammensaßen und Stephen die Verlegenheit mit sei nem Redefluß zu überdecken suchte, indem er sie mit Anekdoten aus Schottland unterhielt.
»Und ihr solltet meinen Sohn sehen«, prahlte Stephen. »Schon bringt Tam ihm das Reiten bei, und er kann noch gar nicht richtig sitzen. Wir beide durften erst ein Pferd besteigend als wir schon gehen konnten. Und wie geht es deiner Tochter, Clarissa? «
Zum erstenmal seit zwei Wochen gab Clarissa sich ganz dem Gedanken an ihre Tochter hin. »Sie ist kräftig«, sagte sie verträumt, »stämmig und gesund und kräht so lustig, daß Judiths Sohn sie immer mit juchzender Stimme begleitet. «
»Er nimmt wohl seine Cousine in Schutz«, sagte Stephen. »Und sie hat deine Augen. «
»Du hast sie gesehen? « Clarissa schoß von ihrem Hocker hoch. »Wann? Ist sie noch gesund? Ist sie inzwischen gewachsen? «
»Ich glaube nicht, daß sie sich sehr verändert hat, seit du sie zum letztenmal sahst; doch was ihre Stimme anbelangt, sie ist bemerkenswert. Glaubst du, sie wird eines Tages singen können? « Er wandte sich Raine zu. »Sie hat diese Grübchen, die du von Mutters Familie geerbt hast. «
»Ich muß mich um das Lager kümmern. « Raine stand so jählings auf, daß er um ein Haar die Schüsseln umgestürzt hätte, die Clarissa auftragen ließ. Rasch verließ er das Zelt.
»Er wird sich wieder fangen«, sagte Stephen zuversichtlich und lächelte, als Clarissa ihn mit herzzerreißendem Blick ansah.
Clarissa versuchte, nicht immer an Raines Zorn zu denken, sondern lenkte ihre Aufmerksamkeit statt dessen auf Brian Chatworth. Er war ein unglücklicher junger Mann, in dessen Augen ein tiefer, brennender
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