Clarissa
Haß nistete. Er lächelte nie, noch schien er an irgend etwas Gefallen zu finden. Clarissa konnte ihn nicht dazu bewegen, sich bei ihr auszusprechen oder sich in irgendeiner Hinsicht ihr anzuvertrauen. Ihre Fragen, wo er denn seit Marys Tod in den letzten Monaten gewesen sei, beantwortete er mit eisernem Schweigen.
Nach einer Weile gab Clarissa ihre Bemühungen auf und überließ ihn den Männern auf dem Übungsfeld. Was Raine betraf, so beachtete er den Jungen nicht, sprach kein einziges Wort mit ihm und verbrachte die meiste Zeit mit Stephen.
Stephen war schon drei Tage im Lager, als Joan zu Clarissa kam.
»Ich glaube, sie kämpfen«, sagte Joan aufgeregt.
»Wer? Doch nicht Raine und Brian Chatworth? «
»Natürlich nicht«, entgegnete Joan mit ungeduldiger Stimme. »Lord Raine und Lord Stephen haben sich tiefer in den Wald zurückgezogen, und einer von den Wächtern meldete, er habe laute Stimmen aus dieser Richtung gehört. Sie wollen jetzt alle dorthin gehen und zusehen. «
»Das wirst du nicht! « sagte Clarissa und drängte sich an der Magd vorbei in die kalte Luft. »Jocelin«, rief sie, als sie ihren Freund erblickte. »Halte sie zurück. Laßt Raine in Ruhe. Und du«, wandte sie sich wieder an Joan, »du hilfst mit, die Männer im Lager festzuhalten. Tue, was du tun mußt; aber nichts Schamloses, hörst du? « rief sie über die Schulter, während sie aus dem Zelt eilte.
Jocelin suchte sich unter den Exsoldaten Helfer, während einige von den Verwundeten Clarissa unterstützten. Und Joan hatte ihre eigenen Methoden, die Männer zum Gehorsam zu bringen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Leute aus dem Lager von der Stelle fernzuhalten, wo Raine und Stephen ihre »Aussprache« hatten.
»Sie sind fast fertig damit«, sagte ein Wächter, als er von einem anderen abgelöst wurde.
Clarissa ging vom Lager fort, weil sie keine Einzelheiten wissen wollte. Raine war so viel massiger als sein Bruder, offensichtlicht so viel stärker. Stephen konnte unmöglich einen Kampf gegen Raine gewinnen, und Clarissa betete, daß Raine sich zurückhielt und seinen Bruder nicht ernsthaft verletzte.
Bei Sonnenuntergang nahm Clarissa die Wassereimer mit zum Fluß, da sie die schadenfreudigen Stimmen der Leute am Lagerfeuer nicht zu ertragen vermochte. Sie drängten sich um die Wächter und hörten ihnen gebannt zu.
Sie stand regungslos am Flußufer, froh über die Stille, die sie umgab, als ein Geräusch sie aufschreckte. Sie schwang herum, und mit schweren, müden Schritten kam Raine unter den Bäumen hervor. Vielleicht hätte sie doch den Kommentaren der Lagerleute zuhören sollen, dann wäre sie besser vorbereitet gewesen auf diesen Augenblick. Die linke Seite seines Gesichts war geschwollen und verfärbte sich purpurrot. Er hatte blutunterlaufene Stellen am Kinn, und sein Auge war eine flammende Mischung unnatürlicher Farben.
»Raine«, flüsterte sie, und er hob den Kopf und vermied ihren Blick, während er sich am Wasser niederkniete. Sie vergaß all den aufgestauten Ärger zwischen ihnen, rannte zu ihm und kniete bei ihm.
»Laß mich sehen«, sagte sie.
Friedlich drehte er ihr das Gesicht zu, und sie legte kühle Finger auf seine verunstalteten Wangen. Wortlos hob sie ihren Rock, riß einen Streifen von dem leinenen Unterhemd ab, tauchte ihn in das kalte Wasser und betupfte damit sein Gesicht.
»Erzähle mir alles«, sagte sie mit halblauter Kommandostimme. »Mit was für einem Knüppel hat Stephen auf dein Gesicht eingeschlagen? «
Es dauerte sehr lange, bis Raine antwortete: »Mit seiner Faust. «
Clarissa unterbrach einen Moment ihre Behandlung. »Aber ein Ritter… « fing sie an. Sie hatte Raine Hunderte Male auf dem Übungsfeld rufen hören, wie unritterlich, unmännlich es sei, mit seinen Händen zu kämpfen. Viele Edelmänner waren gestorben, statt sich mit ihren Fäusten zu wehren und so ihren Kodex zu verletzen.
»Stephen hat sich in Schottland seltsame Gewohnheiten zugelegt«, sagte Raine. »Er behauptet, man könne auf vielerlei Weise miteinander kämpfen. «
»Und zweifellos hast du dagestanden wie ein großer Ochse und ließest dich lieber verprügeln, als dich auf unritterliche Weise dadurch zu wehren, daß du mit der Faust zurückschlugst. «
»Ich habe es versucht«, sagte Raine, zuckte zusammen und beruhigte sich ein wenig. »Er tanzte um mich herum wie eine Frau. «
»Beleidige nicht mein Geschlecht. Keine Frau hat dir jemals so das Gesicht zugerichtet. «
»Clarissa. « Er
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