Clarissa
Bettler war. Beide waren für den Vormittag als Wachen eingeteilt worden. »Alexander«, sagte er über ihre Köpfe hinweg, »sattle mein Pferd. Wir reiten. «
Clarissa rannte los und sattelte den großen Hengst, mit dem sie ihn bereits erwartete, als er aus dem Zelt kam, die Streitaxt und den Morgenstern in der Hand. Er saß im Sattel und zog sie hinter sich auf das Pferd, ehe sie eine Frage an ihn richten konnte, und binnen Sekunden galoppierten sie im halsbrecherischen Tempo durch den Wald.
Nach einem scharfen Ritt, der so schnell war, wie die Bäume es erlaubten, zügelte Raine sein Pferd und sprang zu Boden. Clarissa fing den Zügel auf, den er ihr zuwarf, rutschte nach vorne in den Sattel und sah zum erstenmal, was sich dort zutrug. Eine hübsche Frau mit großen braunen Augen und einem so schönen Gewand, wie es Clarissa noch nie gesehen hatte, preßte sich gegen einen Baumstamm und starrte entsetzt auf drei Männer aus dem Lager, die sie mit gezogenen Schwertern und Messern bedrohten.
»Packt euch, ihr Gauner«, knurrte Raine, indem er erst den einen und dann die beiden anderen Männer zur Seite schleuderte.
Die Frau, vor Angst schlotternd, blickte Raine hilflos an. »Raine«, flüsterte sie, ehe sie die Augen schloß und anfing, mit weichen Knien zu Boden zu gleiten.
Raine fing sie in seinen Armen auf, hob sie hoch und wiegte sie an seiner Brust. »Anne«, flüsterte er, »du bist jetzt in Sicherheit. Alexander hol Wein herbei. Den Lederschlauch von meinem Sattel. «
Nicht unbeeindruckt von der Szene, die sich vor ihr entrollte, stieg Clarissa vom Pferd, nahm das Gefäß aus hartem Leder und stellte es neben Raine auf einen umgestürzten Baum, worauf er sich gesetzt hatte und die Frau auf seinem Schoße hielt.
»Anne, trink das«, sagte er mit einer süßen, sanften Stimme, und die Frau klimperte mit den Wimpern und begann zu trinken. »Nun, Anne«, sagte er, als sie wieder ganz bei sich war, »erzähle mir, was du hier mitten in diesem tiefen Wald suchst. «
Die Frau schien es offensichtlich nicht eilig zu haben, Raines Schoß wieder zu räumen, dachte Clarissa, während sie mit staunenden Augen das Kleid der Frau betrachtete. Es war von tiefroter Seide, ein Material, das sie bisher nur in der Kirche gesehen hatte, und über und über mit winzigen Hasen, Kaninchen, Rehen, Fischen und zahllosen anderen Tiergattungen bestickt. Der rechteckige Halsausschnitt reichte sehr tief und entblößte ein beträchtliches Stück ihrer vollen Brüste. Und der Saum des Ausschnitts wie ihre Taille war mit Goldfäden bestickt und glitzernden roten Juwelen besetzt.
»Alexander! « rief Raine ungeduldig, während er ihr den Weinschlauch zurückgab. »Anne«, fuhr er mit großer Zartheit fort und hielt die erwachsene Frau auf den Knien, als wäre sie ein Kind.
»Was suchst du denn hier, Raine? « fragte sie mit sanfter Stimme.
Sie kann nicht singen, schoß es Clarissa durch den Kopf. Keine Kraft in der Stimme und ein Hauch von Wehleidigkeit.
»König Heinrich hat mich zum Verräter erklärt«, sagte Raine, und dabei blitzte ein Grübchen auf.
Anne lächelte zu ihm empor. »Er ist hinter deinem Geld her, nicht wahr? Aber was hast du getan, um ihm einen Vorwand zu liefern, dir deine Ländereien wegzunehmen? «
»Roger Chatworth hat meine Schwester Mary und Stephens neuvermählte Frau in seine Gewalt gebracht. «
»Chatworth! « rief sie aus. »Hat nicht diese Dame, in die Gavin so verliebt war, einen Chatworth geheiratet? «
»Mein diskreter Bruder«, sagte Raine entrüstet. »Die Frau ist eine Hure von der schlimmsten Sorte. Doch Gavin wollte das nie begreifen. Mag er auch blind sein für ihre Eigenschaften, so ist er doch loyal. Selbst nach seiner Heirat mit Judith blieb er noch eine Weile in Lilian Chatworth verliebt. «
»Aber, was hat das damit zu tun, daß du jetzt hier bist? «
Warum stellt sie sich nicht auf ihre eigenen Beine, dachte Clarissa. Warum bleibt sie so gelassen auf seinem Schoß und spricht so gespreizt, als befänden sie sich in der Halle eines Herrenhauses?
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Raine. »Durch einen unglücklichen Zufall wurde Lilian Chatworth’ Gesicht entstellt, und das bißchen Verstand, das sie besaß, verflüchtigte sich mit ihrer Schönheit. Seit sie Witwe ist, sorgt ihr Schwager für sie, und vielleicht hat diese Frau seinen Verstand vergiftet, denn kurz darauf forderte Roger meinen Bruder zu einem Turnier heraus, und der Sieger sollte die Frau bekommen, die
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