Clarissa
ein Junge. Was passierte, wenn sie sich als Mädchen zu erkennen gab? Er gehörte dem Adelsstand an, und sie war nur die Tochter eines armen Advokaten.
»Werdet Ihr Euch nicht erkälten? « fragte sie mit tonloser Stimme, rollte von ihm weg und stand abseits, den Blick abgewendet, während er sich anzog.
Als er damit fertig war, folgte sie ihm schweigend in das Lager zurück, wo sie auf ihrem Strohsack zusammenbrach, jedoch nicht eher einschlief, bis Raine sich auf seiner schmalen Koje zur Ruhe gelegt hatte. Da war sie endlich zufrieden und schlummerte ein.
Kapitel 6
Sich über das Wasser beugend, studierte Clarissa ihr eigenes Spiegelbild. Sie sah aus wie ein Junge, dachte sie verdrossen. Warum hatte sie nicht als Schönheit auf die Welt kommen können, mit lieblichem Angesicht, das man niemals mit einem Mann verwechseln konnte, egal, was sie anzog? Ihr Haar, ein Wust von Locken und von einer Farbe, die sich nicht für einen Ton zu entscheiden vermochte, Augen und Mund wie bei einer Elfe — nichts war so, wie es bei einer Frau sein sollte.
Als ihr Spiegelbild sich in Tränen aufzulösen begann, schreckte Jocelins Stimme sie auf. »Wäschst du wieder eine Rüstung? « fragte er.
Sie schneuzte sich und nahm das Scheuertuch wieder zur Hand. »Raine nimmt es zu genau damit. Heute muß ich auch noch eine Delle ausbeulen. «
»Du scheinst dir diesmal jedoch große Mühe zu geben. Fängst du etwa an zu glauben, daß ein Edelmann auch etwas wert sein könne? «
»Raine wäre auch ein bedeutender Mann, wenn er dem gemeinen Volk angehörte«, sagte sie viel zu hastig und sah dann verlegen zur Seite.
Seit einer Woche wohnte sie nun in Raines Lager und hatte fast jede Sekunde in seiner Gesellschaft verbracht. Diese sieben Tage hatten genügt, ihre Meinung von ihm von Grund auf zu verändern. Zunächst hatte sie geglaubt, er habe das Lager übernommen, doch nun wußte sie, daß es die Entrechteten gewesen waren, die ihn zwangen, ihr Anführer zu werden. Sie waren wie Kinder, die verlangten, daß er für sie sorgte, und sich dann auflehnten, sobald er das tat. Er verließ sein Bett vor jedem anderen und sah zu, daß die Leute vor Gefahren sicher waren und kümmerte sich noch zu später Stunde darum, daß die Wachen auf ihren Posten waren. Er erzog die Leute dazu, nicht auf der faulen Haut zu liegen, sondern für ihren eigenen Lebens-unterhalt zu arbeiten, weil sie sonst nur darauf gewartet hätten, daß er ihnen Nahrung verschaffte, als wäre er verpflichtet, ihnen die Mäuler zu stopfen.
»Ja«, fuhr sie etwas ruhiger fort. »Raine ist etwas wert; obwohl er kaum Dank findet für das, was er tut. Warum verläßt er nicht diese räudige Schar und zieht sich ganz aus England zurück? Ein Mann, der so reich ist wie er, kann doch auch in der Fremde standesgemäß leben. «
»Vielleicht solltest du ihn das selbst fragen. Du bist ihm doch am nächsten. «
Ich bin ihm nahe, dachte sie. Das war es, wo sie sein wollte — noch näher bei ihm. Erst jetzt fing sie an, ihre Erschöpfung zu überwinden und etwas zu leisten, die harten Übungsstunden jeden Morgen mit Anstand zu überstehen; doch während ihre Muskeln härter wurden und sie sich besser zu fühlen begann, wurde sie immer mehr in das Lagerleben einbezogen.
Blanche nahm eine bevorzugte Stellung in der Gemeinde ein, wo sie jeden zu überzeugen wußte, sie teile Raines Bett und er höre in jeder Weise auf sie. Clarissa gab sich gar nicht erst der Überlegung hin, ob Blanche jemals eine Nacht mit Raine verbracht hatte, doch sie überließ sich gerne der Überzeugung, daß er nicht so geschmacklos sein könnte, eine Schlampe wie Blanche als Bettgenossin zu verwenden. Und noch etwas glaubte Clarissa an Blanche zu endecken: sie hatte panische Angst vor Jocelin.
Und dabei liefen Jocelin, dem so unglaublich gutaussehenden, höflichen, rücksichtsvollen Mann alle Frauen des Lagers nach wie läufige Hündinnen. Clarissa hatte gesehen, wie Frauen alles versuchten, ihn an ihre Seite zu locken, doch soweit sie wußte, hatte Joss nie ihren Verführungskünsten nachgegeben. Er zog seine Pflichten und die Gesellschaft von Clarissa jeder anderen Frau vor. Und obwohl er nie von Blanche sprach, mied er stets ihre Nähe. Falls diese Frau zufällig mit ihm zusammenstieß, machte sie stets kehrt und rannte davon.
Neben Joss gab es nur noch eine zweite achtenswerte Person im Kreis der Verbannten, und zwar Rosamund mit ihrem wunderschönen Profil und dem Zeichen des Teufels auf der Wange.
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