Clarissa
weg und bewegte sich Zoll für Zoll auf das dichte Unterholz zu. Jedesmal, wenn ein Pfeil hinter ihr einschlug, wurde sie ganz steif vor Angst. Sie wagte nicht, einen Blick hinter sich zu werfen, weil sie fürchtete, Raine tot am Boden liegen zu sehen. Als sie das Ende des umgestürzten Baumstammes erreichte, zog sie die Beine unter den Leib und begann zu rennen. Sobald sie hörte, daß die Pfeile nicht mehr in ihrer Nähe einschlugen, bleib sie stehen und versuchte sich zu orientieren.
Das Pferd, der große feurige Hengst von Raine, tänzelte wild an der Stelle, wo er angebunden war. Ein Mann war bei ihm und versuchte die Zügel zu erhaschen. Wenn er das Pferd an sich brachte, konnten sie sich nicht mehr verteidigen, denn die meisten Waffen waren am Sattel festgebunden. Tod und Verdammnis über dich, Raine, dachte sie. Er war so scharf auf diese Dame in roter Seide, daß er alles darüber vergaß.
Nach einem kurzen stillen Gebet öffnete Clarissa den Mund und ließ den Anfang einer Melodie hören, von der sie wußte, daß das Pferd sie mochte. Sogleich spitzte es die Ohren und hielt still. In diesem Moment gelang es dem Mann, den Zügel zu ergreifen und loszubinden, und er hatte den Hengst in seiner Gewalt.
»Das Pferd ist so dumm wie sein Herr«, fluchte sie leise, ehe sie zu einer anderen Melodie ansetzte, die diesmal aus hohen scharfen und dissonanten Tönen bestand, die dem Pferd verhaßt waren. Der Hengst bedankte sich, indem er sich aufbäumte und sich von seinem Fänger losriß. Als das Tier auf sie zu galoppierte, hielt sie einen Moment lang den Atem an, bis sie ihre Angst überwand und wieder zu singen begann. Besänftigt blieb der Hengst neben ihr stehen und erlaubte ihr, in den Sattel zu steigen.
»Nun mach bitte, was ich dir sage«, flüsterte sie, als er ihr seinen mächtigen Kopf zudrehte, die Nüstern blähte und die Augen rollte. Er war dafür dressiert, einen schweren, gepanzerten Ritter in die Schlacht zu tragen und nicht so ein Federgewicht, wie sie es war.
»Geh! « befahl sie mit der Stimme, die sie zu benützen pflegte, wenn sie mit fünfundzwanzig Chorknaben einen Choral probte.
Das Pferd trottete in die falsche Richtung, und Clarissa mußte ihre ganze Kraft aufwenden, um den Hengst dorthin zu dirigieren, wo sie hergekommen war.
»Nein, Raine! Nein! «
Das war die schrille Stimme von Anne, die Clarissa hörte, als sie den Hengst endlich auf den richtigen Weg gebracht hatte. Und als sie zwischen den Bäumen hervorpreschte, sah sie Raine vor sich stehen, mit gezogenem Schwert und voller Blut über der Leiche eines Mannes, vor ihm zwei weitere Männer, die ebenfalls mit Schwertern bewaffnet waren. Anne kauerte hinter ihm und barg sich an Raines breitem Rücken.
»Es sind die Männer meines Vaters! « schrie sie. »Sie sind nur meinetwegen hierhergekommen. Ich sagte dir doch, sie würden mich suchen. « Damit löste sich Anne von Raine und ging zu dem Mann, der auf dem Boden lag. »Er ist nicht tot. Wir können ihn mit nach Hause nehmen«, sagte sie mit einem ärgerlichen Blick auf Raine. »Warum hörst du nie zu, wenn dir jemand etwas sagt? « fauchte sie. »Warum ziehst du erst dein Schwert und redest später? «
Clarissa spürte eine mächtige Zorneswelle in sich aufsteigen und sprang von dem Hengst herunter. Daß Raine sich nicht rechtfertigen würde, sah sie ihm an, denn er preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. »Mein Lord wurde zuerst angegriffen«, sagte sie mit bitterböser Stimme. »Die Pfeile galten ihm! Muß er da erst aufstehen und fragen, wer ihr Absender ist, ehe er sein Schwert zieht? Ihr, edle Dame, habt keinen Ton von Euch gegeben, so lange er Euren kostbaren Körper mit seinem eigenen deckte; doch nun, da er Euch einen Diener beschädigte, den Ihr versorgen müßt, scheint Ihr vergessen zu haben, wie Ihr versuchtet, meinen Herrn in die Büsche zu locken. «
»Alexander«, sagte Raine hinter ihr, die Hand auf ihre Schulter legend, »es gehört sich nicht, unhöflich zu einer… «
»Unhöflich! « fauchte sie und wirbelte zu ihm herum. »Diese Schlampe… «
Raine verschloß ihr mit der Hand den Mund und drückte sie fest an seine Brust, während sie mit beiden Armen ruderte, um sich aus seinem Griff zu befreien. »Anne«, sagte er ruhig, ohne auf Clarissa zu achten, »ich bitte dich für mich und den Jungen um Verzeihung. Ihm fehlt noch der Schliff. Nimm deine Männer und geh zurück zum Fluß. Ich schicke dir jemand, der dich aus dem Wald führen wird.
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