Clarissa
drückte einen kleinen, scharfen Dolch gegen ihre Rippen. »Nun geh die Treppe hinauf und durch die Tür und weiter zu den Ställen. Wenn du nur einen Ton von dir gibst, wird es dein letzter sein. «
Mit stockendem Atem blieb Clarissa keine Wahl, als ihm zu gehorchen. Oben in der großen Halle wimmelte es noch von Gästen, doch keiner schenkte Pagnell und dem billig gekleideten Mädchen die geringste Aufmerksamkeit. Sie pflegten ihre verkaterten Köpfe und blauen Flecken am Körper, die von den Stuhllehnen und Tischkanten herrührten, auf denen sie geschlafen hatten.
Clarissa suchte nach Jocelin, vermochte ihn jedoch nirgends zu entdecken. Jedesmal, wenn sie den Kopf drehen wollte, spürte sie Pagnells Messer sich in ihre Rippen bohren, bis sie den Kopf wieder nach vorn richtete. Vielleicht wußte Jocelin nichts von ihrer Not. Vielleicht war er bei einer Frau und hatte noch gar nicht entdeckt, daß sie nicht mehr unter den Leuten in der Halle weilte. Trotz ihrer Nähe respektierten sie das Privatleben des anderen. Zuweilen sahen sie sich den ganzen Tag nicht und stellten danach keine Fragen.
Draußen stieß Pagnell sie auf die Ställe zu, wo er einem Diener zubrüllte, daß er sein Pferd satteln solle. Ehe Clarissa wußte, wie ihr geschah, war sie in den Sattel geworfen, saß Pagnell hinter ihr, und sie galoppierten aus dem Schloß, daß Clarissa die Zähne klapperten.
Im späten Licht der Abenddämmerung hielten sie endlich vor einem hohen steinernen Gebäude am Rand einer kleinen Ortschaft an. Pagnell zog sie vom Pferd herunter, packte ihren Arm und schleppte sie mit sich zur Tür.
Ein untersetzter, fetter, glatzköpfiger Mann begrüßte sie. »Du hast länger gebraucht, als ich dachte. Was war nun so wichtig, daß ich bis zum späten Abend auf dich warten mußte? «
»Das«, sagte Pagnell und stieß Clarissa vor sich her in das Zimmer hinein. Es war ein großer, dunkler Raum, von ein paar Kerzen erhellt, die auf einem Tisch am anderen Ende standen.
»Was geht mich eine schmutzige schwangere Frau von niedrigem Stande an? Du hättest gewiß für deinen Zeitvertreib etwas Schmackhafteres finden können als diese da. «
»Stell dich dorthin«, befahl Pagnell und stieß sie auf den Tisch zu. »Wenn du ein einziges Wort sagst, schneide ich dir die Kehle durch. «
Zu müde, um etwas darauf zu erwidern, bewegte sich Clarissa auf den Tisch zu und sank vor dem leeren Kamin auf den Boden nieder. «
»Erkläre dich«, sagte der dicke Mann zu Pagnell.
»Nanu, Onkel, kein Willkommen, kein Wein? «
»Falls das, was du mir zu berichten hast, meinen Beifall findet, werde ich dich beköstigen. «
Pagnell setzte sich auf einen Stuhl vor dem Tisch und betrachtete die flackernden Kerzen. Nicht, daß sein Onkel so arm war, sich nur billigen Talg leisten zu können; doch in den letzten drei Jahren hatte der Mann nicht viel mehr getan als auf seinen Tod zu warten.
»Was für Empfindungen hast du für Raine Montgomery? « fragte Pagnell leise und beobachtete aufmerksam, wie das Gesicht seines Onkels seine Totenblässe verlor und purpurrot anlief.
»Wie kannst du es wagen, den Namen dieses Mannes in meinem eigenen Haus auszusprechen? « keuchte er. Vor drei Jahren hatte Raine das einzige Kind von Robert Digges in einem Turnier getötet. Obschon dieser Sohn versucht hatte, Raine umzubringen, statt ihn lediglich vom Pferd zu stoßen, und obwohl dieser Sohn an diesem Tag bereits einen Mann erstochen und mehrere ernsthaft verletzt hatte, war es Raines Lanze gewesen, die Roberts Sohn das Leben nahm.
»Ich dachte mir, daß du ihn genauso verabscheust«, sagte Pagnell lächelnd. »Nun habe ich einen Weg gefunden, es diesem Mann heimzuzahlen. «
»Wie kannst du das? Der Mann versteckt sich im Wald, und nicht einmal der König kann ihr dort aufspüren. «
»Aber unser guter König hat nicht den Köder, den ich besitze. «
»Nein! « rief Clarissa und stand mit letzter Kraft vom Boden auf.
»Siehst du? « sagte Pagnell amüsiert. »Mit jedem Atemzug verteidigt sie diesen Mann. Wessen Kind trägt sie wohl im Bauch? «
Clarissa hielt seinem Blick trotzig stand. Hätte sie nicht versucht, Fiona mit dem Hinweis auf den Charakter der Montgomerys zu beruhigen, hätte Pagnell nie von ihrer Beziehung zu Raine erfahren. Doch Fiona hatte ihr geholfen.
»Pagnell«, befahl Robert, »erzähl mir deine Geschichte von Anfang an. «
Pagnell gab in kurzen Zügen seine Version der Geschichte zum besten, daß Clarissa ihre Stimme dazu benützt
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