Clarissa
ihrer Rettung herbeizueilen. Sie betete inbrünstig für seine Sicherheit und flehte Gott an, ihm die Augen zu öffnen, daß er in eine Falle laufen würde. Die Richter und Pagnell hatten nur zu recht mit ihrer Meinung, daß Raine sich nicht auf die Unterstützung seiner Ritter verlassen konnte. Tatsächlich hatte Pagnell mit seinen eigenen Gefolgsleuten das Land im Norden von Raines Burg besetzt, um Raine daran zu hindern, daß er zuerst dorthin ritt.
Clarissa saß auf ihrem Schemel und dachte über die Männer in Raines Lager nach, was für armselige Soldaten sie waren, wie faul sie waren, wenn sie sich im Waffenhandwerk üben sollten — und wie sehr diese Leute sie haßten. »Bitte«, betete sie, »laß Raine nicht allein hierherkommen. Wenn er kommt, gib ihm eine Wache bei, und sorge dafür, daß die Männer ihn schützen. «
Am neunten Tag vor Sonnenaufgang kam eine fette, stinkende alte Frau mit einem einfachen weißen Leinentuch zu ihr, das sie anziehen sollte. Widerspruchslos warf Clarissa das Tuch über ihren Körper und ließ es lose über ihrem Leib hängen. Während der Verhandlung hatte sie um Gnade für das Leben ihres Kindes gefleht; doch die Männer hatten sie nur verständnislos angesehen, als wäre sie nicht die Angeklagte, sondern eine Sache ohne Bedeutung. Einer der Richter sagte zu Pagnell, er sollte sie zum Schweigen bringen, und mit einer Ohrfeige brachte er Clarissa zum Verstummen. Gleichgültig, was sie Vorbringen würde — diese Leute vermochte sie nicht zu beeindrucken. Jetzt überlegte sie, daß diese Leute sie verbrennen mußten, solange ihre Gefühle noch heiß waren für sie und das Kind zusammen mit ihr umgebracht werden sollte. Pagnell lachte und sagte, sie würden Raine festhalten, damit er zusehen mußte, wie Clarissa verbrannte.
Mit hocherhobenem Kinn stieg Clarissa die Wendeltreppe vor der alten Frau hinunter, die Clarissas Kleid über dem Arm trug — Belohnung für ihr Risiko, sich im selben Raum mit der Hexe aufzuhalten.
Sie mußte ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, damit sie ihre wackeligen Knie zum Gehorsam brachte. Ein Priester erwartete sie am Fuß der Treppe, und rasch legte Clarissa eine Beichte ab, in der sie leugnete, daß sie eine Hexe sei oder das Kind des Teufels in sich trage. Mit ungläubiger Miene segnete er sie und schickte sie auf den Weg zum Schafott.
Es mußte sonderbar aussehen, dachte Clarissa, daß so ein schmächtiges Ding wie sie von so vielen kräftigen Männern eskortiert wurde: einer ging voran, einer marschierte hinter ihr und jeweils zwei Bewaffnete an ihrer Seite. Das Scheppern ihrer Rüstungen war das einzige Geräusch, das lauter war als das Klopfen ihres Herzens, als sie ihre Augen auf die Plattform vor sich richtete. Ein hoher Pfahl streckte sich himmelwärts, und um ihn war ein Stoß aus Zweigen und getrockneten Gräsern errichtet.
Die Menge lärmte freudig, während sie ihren Gang zum Scheiterhaufen beobachtete, frohlockend über das besondere Schauspiel, das ihnen geboten wurde. Nicht viele Hexen wurden in diesen Tagen noch verbrannt.
Als Clarissa die hölzerne Treppe hinaufstieg, schlossen die Wachen einen Kreis um sie und drehten ihr den Rücken zu, während sie mit den Augen den Horizont absuchten. Unwillkürlich blickte Clarissa ebenfalls auf das Land hinaus. Hoffnung und Angst vermischten sich in ihr. Sie fürchtete um Raines Leben, falls er versuchen sollte, sie zu retten, doch sie hoffte zugleich, daß sie nicht sterben mußte.
Ein Wächter packte sie am Arm, zog sie zum Pfahl und band die Handgelenke auf ihrem Rücken fest.
Clarissa hob die Augen himmelwärts, sich ganz dessen bewußt, daß sie zum letztenmal die Sonne erblicken würde. Die Morgendämmerung brach an, und sie sah über die hohen Büsche hin in die Menge. Es war schlimm, sehr schlimm, daß sie den Eindruck dieser Gesichter mit hinübernehmen mußte, wenn sie in den Himmel kam — oder in die Hölle.
Sie schloß die Augen und versuchte sich Raines Gesicht vorzustellen.
»Vorwärts mit dir«, drang eine Stimme zu ihr, die sie zwang, ihre Augen wieder zu öffnen. Stimmen waren für sie etwas Lebendiges; sie würde sich eher an eine Stimme erinnern als an ein Gesicht oder einen Namen. Während sie die Menge musterte, sah sie dort keinen, den sie kannte. Sie schienen alle zu einem besonders schmutzigen, gepreßt bedeckten Mob zu gehören.
»Laßt mich das Feuer anzünden«, kam diese Stimme wieder, und diesmal blickte Clarissa in Rosamunds Augen. Ein
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