Clarissa
nahmen. Sie hatten ebenfalls Talente; doch sie pflegten sie nicht auf Kosten anderer Arbeiten.
Clarissa war sich nicht sicher, wann sie einzusehen begann, wie selbstsüchtig ihr Leben bisher gewesen war. Dank ihrem Talent hatte sie unter den Bewohnern ihrer kleinen Stadt eine Ausnahmestellung eingenommen. Jeder hatte sich ihr gegenüber reserviert verhalten, hatte sie behandelt, als wäre sie eine vom Himmel begnadete Person. In ihrer Selbstgerechtigkeit hatte sie beschlossen, alle Edelleute zu hassen, nur weil einer aus diesem Kreis ihr Unrecht getan hatte. Doch in Wahrheit war sie eifersüchtig gewesen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, daß sie niemandem unterlegen sei, aber was hatte sie tatsächlich anderen jemals gegeben? Ihre Musik? Oder war ihre Musik tatsächlich nur für sie selbst da?
Sie erkannte, daß Gavins Männer und die Diener sie freundlich behandelten, weil sie eine Verwandte von Raine war; doch sie wollte etwas geben, was ihr nicht so leicht fiel.
Sie gründete eine Schule für die vielen Kinder im Burgkomplex und begann sie im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Wie oft wollte sie ihre Bemühungen aufgeben, doch sie blieb beharrlich dabei und wurde hin und wieder dadurch belohnt, daß ein Kind ein neues Wort lernte.
An den Nachmittagen arbeitete sie mit den Verwundeten und Kranken. Einmal wurde das Bein eines Mannes unter einem Weinfaß zerschmettert, und es mußte ihm abgenommen werden. Clarissa legte seinen Kopf zwischen ihre Hände und nahm all ihre Kunst, all ihre Gefühle zusammen, um ihn mit ihrer Stimme zu hypnotisieren. Danach weinte sie stundenlang.
»Es tut weh, wenn man sich engagiert«, sagte sie zu Judith. »Eines meiner Kinder, ein herziges Mädchen, fiel gestern von der Mauer herunter und starb in meinen Armen. «
Judith hielt sie fest und beruhigte sie, und sie sprachen lange Zeit miteinander. Am Morgen ging Clarissa zurück in ihre Schule. Später kam der Mann, der sein Bein verloren hatte, zu ihr, und Tränen der Dankbarkeit strömten ihm über das Gesicht, als er vor Clarissa hintrat. Judith, die hinter Clarissa stand, sagte:
»Gab Gott dir dein Talent, um den Menschen zu helfen, die dich brauchen, oder solltest du es für die hübschgekleideten Leute in der Kirche aufheben? «
Zu Weihnachten kam Judiths Mutter zu ihnen zu Besuch. Helen Bassett sah nicht so alt aus, als könne sie irgend jemandes Mutter sein. An ihrer Seite war ihr zweiter Mann John, der so zufrieden aussah, wie ein Mann nur sein kann. Beide lächelten sie zu ihrer elf Monate alten Tochter hinunter, die eben das Gehen lernte.
Judiths Sohn war sechs Monte alt, Clarissas Tochter zwei Monate. Jeder versuchte, die Festtage fröhlich zu gestalten, und niemand sagte ein Wort darüber, wie viele Familienmitglieder fehlten.
»Im letzten Jahr waren wir alle beisammen«, murmelte Gavin in seinen Bierbecher.
Keine Botschaft von Raine.
Im Januar schien alles zugleich zu geschehen. Roger Chatworth war tatsächlich zu König Heinrich gereist — aber nicht allein. Ob zufällig oder absichtlich, war Pagnell zur selben Zeit bei Hof erschienen.
Roger behauptete, Miles hielte seine Schwester in Schottland gefangen, und Pagnell behauptete, er habe Beweise, daß Raine eine Armee von gemeinen Leuten ausbildete, die wie Ritter fechten sollten, und daß er versuchte, eine Armee gegen den König auszuheben.
König Heinrich sagte, er sei die Fehde zwischen den Montgomerys und den Chatworth’ herzlich leid und wolle, daß Lady Fiona freigegeben werde. Wenn Miles dieses Gebot nicht befolge, würde er ihn zum Verräter erklären und seine Ländereien konfiszieren lassen. Was Raine anbetraf, würde der König den Wald und alles, was darin war, verbrennen lassen, wenn er die Verbrecher mit noch mehr Waffen ausrüstete.
Gavin schickte einen Boten nach Schottland und bat Stephen dringend darum, Miles zu zwingen, dem Gebot des Königs zu gehorchen. Ehe er von dort eine Antwort bekam, traf die Nachricht in der Burg ein, daß Pagnell tot aufgefunden worden sei. Man flüsterte davon, daß die Montgomerys für seinen Tod verantwortlich wären. Der König fügte das einer langen Liste von Beschwerden bei.
»Ihm gelüstet nach dem, was wir jahrhundertelang in Besitz haben«, sagte Gavin. »Andere Könige haben versucht, uns das wegzunehmen, und es gelang ihnen nicht. Diesem wird es auch nicht gelingen. « Er holte sich einen Morgenstern von der Wand. »Wenn Stephen Miles keine Vernunft eintrichtern kann — dann ich! «
Binnen
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