Clark Mary Higgins
Höflichkeiten. »Was wollen
Sie?« fragte er kurz angebunden.
Im Geiste sah sie ihn vor sich, wie er zurückgelehnt in seinem
mit Messingnägeln beschlagenen, imposanten Ledersessel saß.
Mit ebenso kalter Stimme wie er sagte sie: »Man hat mich gebeten, ausfindig zu machen, wo Ethel Lambston sich aufhält. Es ist
dringend.« Einer Eingebung folgend, fügte sie hinzu: »Aus ihrem Terminkalender weiß ich, daß sie letzte Woche bei Ihnen
war. Hat sie irgendeine Andeutung gemacht, ob und wohin sie
verreisen wollte?«
Mehrere Sekunden herrschte völlige Stille. Er muß sich erst
überlegen, was er sagen soll, dachte sie. Als Steuber sprach, war
sein Ton ruhig und distanziert. »Ethel Lambston hat schon vor
Wochen versucht, mich wegen eines Artikels, den sie schreiben
wollte, zu interviewen. Ich habe sie nicht empfangen. Ich habe
keine Zeit für Klatschtanten. Letzte Woche telefonierte sie, aber
ich nahm den Anruf nicht entgegen.«
Neeve hörte nur noch ein Klicken.
Sie wollte eben die Nummer des nächsten Designers auf ihrer
Liste wählen, als ihr Telefon läutete. Jack Campbell war am
Apparat. Seine Stimme klang besorgt. »Meine Sekretärin hat
mir ausgerichtet, Ihr Anruf sei dringend gewesen. Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten, Neeve?«
Es kam ihr auf einmal lächerlich vor, daß sie ihm am Telefon
erklären wollte, sie sei ernsthaft besorgt um Ethel Lambston,
weil diese ihre Kleider nicht abgeholt hatte.
Statt dessen sagte sie: »Sie haben sicher sehr viel zu tun, aber
könnte ich Sie möglichst bald einmal eine halbe Stunde sprechen?«
»Ich bin heute zum Mittagessen mit einem meiner Autoren verabredet«, sagte er. »Wie wäre es um drei Uhr in meinem Büro?«
Der Verlag Givons and Marks befand sich in den obersten sechs
Etagen eines Eckgebäudes Park Avenue und 41. Straße. Jack
Campbell hatte sein Büro in einem riesigen Eckzimmer im 47.
Stock mit einer atemberaubenden Aussicht auf Manhattan. Sein
beeindruckend großer Schreibtisch war schwarz poliert. In den
Bücherregalen an der Wand dahinter stapelten sich Manuskripte.
Ein schwarzes Ledersofa und ebensolche Sessel standen um
einen niedrigen Cocktailtisch mit Glasplatte. Es überraschte
Neeve, daß der Raum keinerlei persönliche Merkmale aufwies.
Als könne er Gedanken lesen, sagte Jack Campbell: »Bis
meine Wohnung bezugsbereit ist, wohne ich im ›Hampshire
House‹. Meine ganze Habe ist noch im Möbellager. Daher sieht
es hier aus wie im Wartezimmer eines Zahnarztes.«
Er hatte sein Jackett über die Rückenlehne seines Schreibtischsessels gehängt. Er trug einen Jacquard-Pullover mit grünbraunem Schottenmuster. Er stand ihm gut, fand Neeve. Herbstfarben. Sein Gesicht war zu schmal, die Züge zu unregelmäßig,
als daß man sie schön hätte nennen können. Doch durch die ruhige Kraft, die von ihnen ausging, waren sie überaus anziehend.
In seinen Augen lag eine herzliche Wärme, als er sie anlächelte,
und Neeve war froh, daß sie eines ihrer neuen Frühjahrsmodelle
angezogen hatte, ein türkisfarbenes Wollkleid mit dazu passender halblanger Jacke.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?« fragte Jack. »Ich trinke zwar
zuviel davon, aber ich nehme trotzdem noch einen.«
Neeve wurde sich auf einmal bewußt, daß sie nichts zu Mittag
gegessen hatte und ihr Kopf leicht schmerzte. »Ja, gerne. Einen
schwarzen, bitte.«
Während sie warteten, bewunderte sie die Aussicht. »Kommen Sie sich nicht geradezu wie der König von New York vor?«
»In diesem ersten Monat, seit ich hier bin, habe ich mich sehr
anstrengen müssen, meinen Kopf bei der Arbeit zu haben«, erzählte er ihr. »Als Zehnjähriger beschloß ich, daß ich eines Tages in New York leben wollte. Das war vor sechsundzwanzig
Jahren. So lange hat es gedauert, bis ich’s geschafft hab.«
Als der Kaffee kam, setzten sie sich an den Glastisch. Jack
Campbell lehnte sich bequem auf dem Sofa zurück; Neeve saß
auf der Kante eines Sessels. Sie wußte, daß er eine andere Verabredung hatte verschieben müssen, damit er sie so rasch empfangen konnte. Sie holte tief Atem und berichtete ihm von Ethel.
»Mein Vater hält mich für verrückt«, sagte sie. »Aber ich habe
ein komisches Gefühl, daß ihr irgend etwas passiert ist. Darum
wollte ich fragen, ob Ethel eine Andeutung gemacht hat, daß sie
beabsichtigte zu verreisen. Soviel ich weiß, soll das Buch, das
sie für Sie schreibt, im Herbst erscheinen.«
Jack Campbell hatte ihr mit derselben Aufmerksamkeit zugehört, die
Weitere Kostenlose Bücher