Clark Mary Higgins
mitleiderregende Männer und Frauen, die zusammengekauert auf Bänken saßen. Ein ununterbrochener Verkehrsfluß. Pferdedroschken.
Myles blieb an der Lichtung stehen, wo Renata gefunden
worden war. Komisch, dachte er, sie liegt auf dem Gate-ofHeaven-Friedhof begraben, aber für mich ist es so, als wäre ihr
Körper immer hier. Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen seiner Wildlederjacke, stand er da. Wäre es damals ein
Tag wie dieser gewesen, dann hätten sich Menschen im Park
aufgehalten. Irgend jemand hätte vielleicht gesehen, was geschah. Eine Gedichtstrophe ging ihm durch den Sinn: Und wie
in goldnen Träumen / Geht linder Frühlingswind / Rings in den
stillen Bäumen – / Schlaf wohl, mein süßes Kind!
Zum erstenmal hatte Myles heute an diesem Ort das Gefühl,
als ob eine Wunde zu heilen begönne. »Es ist nicht mein Verdienst, aber wenigstens ist unsere Tochter außer Gefahr, carissima mia «, flüsterte er. »Und hoffentlich warst du dabei, als
Nicky Sepetti vor dem Thron des Höchsten Richters erschien,
und hast ihm den Weg zur Hölle gewiesen.«
Myles wandte sich um und ging rasch durch den Park davon.
Adam Feltons letzte Worte klangen ihm noch im Ohr: »Also
gut, Sie brauchen sich wegen Nicky Sepetti keine Sorgen mehr
zu machen. Sie haben vor siebzehn Jahren eine schreckliche
Tragödie erlebt. Die Frage ist: Sind Sie jetzt bereit, Ihr Leben
weiterzuleben?«
Leise wiederholte Myles die knappe Antwort, die er Felton
gegeben hatte: »Ja.«
Als Neeve nach ihrem Besuch in Ethels Wohnung im Geschäft
eintraf, waren die meisten Angestellten schon da. Außer Eugenia, ihrer rechten Hand und Stellvertreterin, die auch als Empfangsdame arbeitete, beschäftigte sie sieben Verkäuferinnen und
drei Schneiderinnen.
Eugenia war dabei, ein paar Kleiderpuppen neu anzuziehen.
»Schön, daß man wieder zweiteilige Ensembles trägt«, sagte sie,
während sie geschickt das Oberteil eines zimtfarbenen seidenen
Deux-pièces drapierte. »Welche Handtasche?«
Neeve trat ein paar Schritte zurück. »Halt sie noch mal hin.
Die kleinere, glaube ich. Die andere ist zu stark rostbraun für
das Kleid.«
Als Eugenia den Mannequinberuf aufgegeben hatte, war sie
ohne Bedauern allmählich von Größe 38 zu Größe 44 übergegangen, ohne jedoch ihre graziösen Bewegungen zu verlieren,
die sie zum Liebling der großen Couturiers gemacht hatten. Sie
hängte die Tasche an den Arm der Puppe. »Du hast wieder einmal recht«, sagte sie gutgelaunt. »Wir bekommen heute viel zu
tun. Ich spüre das schon.«
»Hoffentlich.« Neeve versuchte, es ganz unbekümmert klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht.
»Neeve, gibt’s was Neues wegen Ethel Lambston? Ist sie immer noch nicht aufgetaucht?«
»Keine Spur von ihr.« Neeve sah sich im Geschäft um. »Hör
zu, ich ziehe mich jetzt in mein Büro zurück und erledige ein
paar Telefongespräche. Sag niemand, daß ich da bin, falls es
nicht wirklich unumgänglich ist. Ich möchte heute keine Vertreter empfangen.«
Als erstes rief sie bei Contemporary Woman an, um Toni
Mendell zu sprechen. Sie war den ganzen Tag in einem Journalistenseminar. Neeve versuchte es bei Jack Campbell. Er war in
einer Besprechung. Sie hinterließ ihm eine Nachricht und bat
um seinen Rückruf. »Es ist ziemlich dringend«, sagte sie seiner
Sekretärin. Sie ging die Liste mit den Namen der Modeschöpfer
durch, die Ethel sich in ihrem Terminkalender notiert hatte. Die
ersten drei, die Neeve erreichte, hatte Ethel nicht aufgesucht,
sondern lediglich angerufen, um sich bestätigen zu lassen, daß
sie das, was sie ihnen zuschrieb, auch wirklich gesagt hatten.
Elke Pearson, die Designerin von Sportkollektionen, faßte die
Verärgerung, die Neeve in allen anderen Stimmen heraushörte,
so zusammen: »Ich werde nie verstehen, warum ich mich von
dieser Frau habe interviewen lassen. Sie hat mich mit Fragen
bombardiert, bis mir der Kopf schwirrte. Ich mußte sie beinahe
rausschmeißen, und ich habe den Verdacht, daß mir ihr verdammter Artikel nicht gefallen wird.«
Anthony della Salva war der nächste Name. Neeve machte
sich weiter keine Sorgen, als sie ihn nicht erreichte. Sie würde
ihn beim Abendessen sehen. Gordon Steuber. Ethel hatte ihr
gestanden, daß sie ihn in ihrem Artikel anprangern würde. Aber
wann hatte sie ihn zum letztenmal gesehen? Widerwillig wählte
Neeve die Nummer von Steubers Büro und wurde sofort zu ihm
durchgestellt.
Er verschwendete keine Zeit auf
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