Clark Mary Higgins
ihr etwas erhöht gelegenes Haus in der Biegung
des Grand View Circle auftauchen sah: ein beeindruckendes
Haus im Kolonialstil, weiß mit schwarzen Fensterläden.
Drinnen ging sie durch die Zimmer im Erdgeschoß und knipste die Lampen an; dann entzündete sie das Gasfeuer im Kamin
des kleinen Salons. Als Michael noch lebte, hatte er schön brennende Kaminfeuer entfacht, da er es verstand, die Scheite über
dem Kleinholz richtig aufzuschichten und die Flammen regelmäßig anzufachen, so daß der Duft nach Hickoryholz den Raum
erfüllte. Kitty konnte nie ein Feuer richtig in Gang bringen, wie
sehr sie sich auch bemühte. So hatte sie die Gasflammen installieren lassen und sich im stillen bei Michael entschuldigt.
Sie ging hinauf ins große Schlafzimmer, das sie in Aprikosengelb und Blaßgrün neu hatte tapezieren lassen, nach einem
Muster, das sie von einem Wandteppich im Museum kopiert
hatte. Während sie ihr graues wollenes Deux-pièces auszog,
kämpfte sie mit sich, ob sie gleich duschen und einen bequemen
Pyjama und ihren Schlafrock anziehen sollte. Eine schlechte
Angewohnheit, sagte sie sich. Es ist erst sechs Uhr.
Statt dessen holte sie einen leuchtend blauen Trainingsanzug
aus dem Schrank und griff nach den Turnschuhen. »Von heute
an wird wieder gejoggt!« befahl sie sich selbst.
Sie nahm den gewohnten Weg. Ihre Straße hinunter bis zur
Lincoln Avenue, dann zwei Kilometer in Richtung Stadt, eine
Runde um die Busstation und wieder zurück nach Hause. Mit
dem befriedigenden Gefühl, ihre Pflicht erfüllt zu haben, warf
sie den Trainingsanzug und ihre Unterwäsche in den Wäschekorb im Bad, nahm eine Dusche, schlüpfte dann in einen Hausanzug und betrachtete sich im Spiegel. Sie war immer schlank
gewesen und behielt ihre Figur recht gut bei. Die Fältchen um
die Augen waren nicht sehr tief. Das Haar wirkte ganz natürlich;
der Färbespezialist in ihrem Frisiersalon hatte genau ihren eigenen rötlichen Ton getroffen. Nicht schlecht, sagte Kitty zu ihrem
Spiegelbild, aber mein Gott, in zwei Jahren werde ich sechzig !
Es war Zeit für die Sieben-Uhr-Nachrichten und eindeutig
auch Zeit für einen Sherry. Kitty ging durchs Schlafzimmer ins
Treppenhaus, als ihr einfiel, daß sie das Licht im Bad hatte
brennen lassen. Spare in der Zeit, so hast du in der Not! Außerdem sollte man sowieso Strom sparen. Sie eilte zurück ins Badezimmer und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
Ihre Finger wurden plötzlich taub. Aus dem Wäschepuff hing
der Ärmel ihres blauen Trainingsanzugs. Angst schnürte Kitty
wie ein eisiger Schraubstock die Kehle zusammen. Ihr Mund
wurde trocken, und sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Der Ärmel! Es müßte eine Hand drin stecken. Gestern. Als
das Pferd durchgegangen war. Der Plastikfetzen, der ihr Gesicht
gestreift hatte. Das verwischte Bild von blauem Stoff und einer
Hand. Sie war nicht verrückt gewesen. Sie hatte eine Hand gesehen!
Kitty vergaß, die Sieben-Uhr-Nachrichten anzustellen. Statt
dessen saß sie vornübergebeugt auf dem Sofa vor dem Kamin
und trank in kleinen Schlucken ihren Sherry. Weder das Feuer
noch der Sherry konnten das Frösteln mildern, das ihren ganzen
Körper ergriffen hatte. Sollte sie die Polizei benachrichtigen?
Und wenn sie sich geirrt hatte? Dann würde sie sich lächerlich
machen.
Ich habe mich nicht geirrt, sagte sie sich, aber ich werde bis
morgen warten. Ich fahre zum Park und gehe noch einmal die
Strecke entlang. Was ich gesehen habe, war eine Hand, aber
demjenigen, dem sie gehört, ist sowieso nicht mehr zu helfen.
»Du sagst, daß Ethels Neffe in ihrer Wohnung ist?« fragte Myles, während er den Eiskübel füllte. »Dann hat er sich das Geld
geliehen und es später zurückgelegt. So was gibt’s.«
Wieder kam sich Neeve ein bißchen lächerlich vor, als Myles
eine vernünftige Erklärung für die Umstände hatte, die mit
Ethels Verschwinden, ihren Wintermänteln und jetzt mit den
Hundertdollarnoten zusammenhingen. Sie war froh, Myles noch
nichts von ihrem Treffen mit Jack Campbell gesagt zu haben.
Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie eine blaue seidene
Hose mit dazu passender Hemdbluse angezogen. Sie erwartete,
daß Myles so etwas sagte wie: »Ziemlich ausgefallen für ein
Servierfräulein.« Statt dessen wurde sein Blick ganz weich, als
sie in die Küche kam. »Deine Mutter hat immer wunderschön in
Blau ausgesehen. Du wirst ihr mit jedem Tag ähnlicher.«
Neeve nahm Renatas Kochbuch
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