Clark Mary Higgins
Sie mich darüber nachdenken.«
Als sie die 73. Straße überquerte, entschied Ruth sich: Entweder verzichtet sie auf die Alimente, oder ich werde mit der Anwältin sprechen.
Eine junge Frau mit einem Kinderwagen kam ihr entgegen.
Ruth trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, und stieß mit einem
schmalgesichtigen Mann zusammen, dessen Gesicht fast ganz
von einer Mütze verdeckt war und dessen schmutziger Mantel
nach Wein stank. Angewidert rümpfte sie die Nase, klemmte
ihre Handtasche fester unter den Arm und wechselte auf die andere Straßenseite hinüber. Die Gehsteige wimmelten von Fußgängern, Kindern mit Schulbüchern, älteren Leuten, die ihren
täglichen Morgenspaziergang zum Zeitungsstand machten,
Menschen auf dem Weg zur Arbeit, die ein Taxi herzuwinken
versuchten.
Ruth konnte nie vergessen, daß sie vor zwanzig Jahren beinahe ein Haus in Westchester gekauft hatten. Fünfunddreißigtausend Dollar sollte es damals kosten; heute müßte es das Zehnfache wert sein. Als die Bank die Höhe der Alimentenzahlungen
erfuhr, wurde ihnen die Hypothek nicht bewilligt.
Ruth bog jetzt in die 82. Straße ein, in der Ethels Haus lag.
Sie straffte die Schultern, rückte ihre randlose Brille zurecht, als
bereite sie sich wie ein Boxer darauf vor, in den Ring zu treten.
Seamus hatte ihr erzählt, daß Ethel ein Apartment im Parterre
mit einem eigenen Eingang bewohnte. Der Name E. Lambston
über der Türglocke bestätigte dies.
Von drinnen hörte sie den schwachen Ton eines laufenden
Radios. Sie drückte den Zeigefinger fest auf die Klingel. Niemand reagierte auf ihr erstes und zweites Läuten. Aber Ruth ließ
sich nicht so leicht entmutigen. Beim drittenmal behielt sie den
Finger auf dem Knopf.
Das laute Klingeln dauerte eine volle Minute, ehe es durch
das Klicken des gedrehten Schlüssels belohnt wurde. Die Tür
wurde aufgerissen. Ein junger Mann mit ungekämmtem Haar
und in einem noch nicht zugeknöpften Hemd starrte sie wütend
an. »Was, zum Teufel, wollen Sie?« fragte er und machte gleich
darauf sichtlich den Versuch, sich zu beruhigen. »Verzeihung.
Sind Sie eine Freundin von Tante Ethel?«
»Ja, und ich muß sie sprechen.« Ruth machte einen Schritt
vorwärts und zwang den jungen Mann, ihr entweder den Weg zu
versperren oder sie durchzulassen. Er trat zurück, und sie befand
sich im Wohnzimmer. Rasch blickte sie sich überall um. Seamus
sprach immer von Ethels unordentlichem Haushalt, aber die
Wohnung war tadellos aufgeräumt. Ein bißchen viele Zeitungen
lagen herum, aber sie waren in Stapeln geordnet. Schöne antike
Möbel. Seamus hatte ihr von den Stücken erzählt, die er Ethel
gekauft hatte. Und ich lebe in all dem greulichen Plunder, dachte Ruth.
»Ich bin Douglas Brown.« Doug wurde auf einmal von Besorgnis ergriffen. Irgend etwas an dieser Frau und an der Art,
wie sie die Wohnung beäugte, machte ihn nervös. »Ich bin
Ethels Neffe«, sagte er. »Haben Sie eine Verabredung mit ihr?«
»Nein. Aber ich bestehe darauf, sofort mit ihr zu sprechen.«
Ruth stellte sich ihrerseits vor. »Ich bin Seamus Lambstons
Frau, und ich bin hier, um den letzten Scheck, den er Ihrer Tante
gegeben hat, wieder abzuholen. Von jetzt an werden keine Alimente mehr gezahlt!«
Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Post. Ziemlich weit oben
sah sie einen weißen, braun geränderten Umschlag aus dem
Haufen herausragen. Es war das Briefpapier, das Seamus von
seinen Töchtern zum Geburtstag bekommen hatte. »Ich nehme
mir den da«, sagte sie.
Ehe Doug sie daran hindern konnte, hatte sie den Umschlag in
der Hand. Hastig öffnete sie ihn und zog den Inhalt heraus.
Nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, zerriß sie den
Scheck und tat den Brief zurück in den Umschlag.
Während Doug ihr zusah, zu perplex, um zu protestieren, griff
sie in ihre Handtasche und holte die Stücke der von Seamus zerrissenen Hunderternote hervor. »Ihre Tante ist nicht da, nehme
ich an«, sagte sie.
»Sie sind ganz schön unverfroren«, fuhr Doug sie an. »Ich
könnte Sie verhaften lassen.«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht versuchen. Hier!« Damit
drückte sie ihm die Stücke des zerrissenen Geldscheins in die
Hand. »Sagen Sie der Schmarotzerin, sie soll sich den zusammenkleben und damit ihr letztes Luxusmahl auf Kosten meines
Mannes bezahlen. Sagen Sie ihr, daß sie keinen roten Heller
mehr von uns bekommt, und wenn sie es versucht, wird sie es
bis zu ihrem letzten Atemzug bereuen!«
Ruth ließ Doug gar keine
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