Clark Mary Higgins
entgangen.«
Einer der Inspektoren hatte sie gehört. Er gab ihr seine Karte.
»Sie können mich jederzeit anrufen.«
Sie begaben sich zum Ausgang des Gerichtsgebäudes. Myles
ging voraus und unterhielt sich mit Myra Bradley; seine silbergraue Mähne überragte ihren dunkelbraunen Bubikopf um
Haupteslänge. Letztes Jahr hatte sein Kaschmirmantel ihm viel
zu weit von den Schultern gehangen. Nach der Operation war er
bleich und mager gewesen. Jetzt füllten seine Schultern den
Mantel aus. Sein Gang war energisch und sicher. Er fühlte sich
sichtlich wohl. Polizeiarbeit war das, was seinem Leben einen
Sinn gab. Neeve betete im stillen, daß wegen der Stelle in Washington nichts dazwischenkam.
Solange er arbeiten kann, wird er hundert Jahre alt, dachte sie.
Es gab eine verrückte Redensart: Willst du ein Jahr lang glücklich sein, dann gewinne in der Lotterie. Willst du dein Leben
lang glücklich sein, dann liebe das, was du machst. Die Liebe zu
seiner Arbeit hatte Myles geholfen, nach dem Tod von Renata
weiterzumachen.
Die Inspektoren waren, als die anderen gingen, zurückgeblieben, um Ethels Sachen wieder wegzutragen. Kleider, von denen
Neeve wußte, daß sie eines Tages bei einem Prozeß wieder vorgezeigt würden. Die Ethel zuletzt getragen hatte…
Myles hatte recht. Es war dumm von ihr gewesen, in so einer
Harlekinaufmachung mit den leise klingelnden Ohrgehängen an
diesen düsteren Ort zu kommen. Neeve war froh, daß sie ihr
schwarzes Cape, unter dem sich das auffallende Ensemble
verbarg, nicht ausgezogen hatte. Eine Frau war tot. Keine einfache und keine beliebte, aber eine hochintelligente Frau, die sich
durchzusetzen wußte; die gerne gut aussehen wollte, aber weder
die Zeit noch den richtigen Instinkt hatte, um sich in der Modewelt zurechtzufinden.
Mode. Das war es. Irgend etwas war mit dem Ensemble, das
Ethel trug, nicht in Ordnung…
Ein Frösteln ging durch Neeves Körper. Jack Campbell mußte
es gespürt haben. Er nahm plötzlich ihren Arm. »Sie haben sich
ihr sehr verbunden gefühlt, nicht wahr?«
»Mehr, als ich dachte.«
Ihre Schritte hallten in dem langen Korridor wider. Der Marmorboden war alt und abgetreten und voller Risse, wie Adern
unter der Haut.
Ethels Schlagader. Ihr Hals war dünn, aber faltenlos gewesen.
Bei vielen Frauen stellten sich, wenn sie auf die sechzig zugingen,
die verräterischen Zeichen des Alters ein. »Es beginnt beim Hals«,
pflegte Renata zu sagen, wenn ein Kleiderfabrikant sie überreden
wollte, tief ausgeschnittene Modelle für reife Frauen zu bestellen.
Sie kamen zur Tür des Gerichtsgebäudes. Die Bezirksanwältin und Myles einigten sich, daß Manhattan und Rockland County bei den Ermittlungen eng zusammenarbeiten wollten. »Eigentlich habe ich ja nichts zu sagen«, bemerkte Myles. »Nur
vergesse ich manchmal, daß ich nicht derjenige bin, der die Hebel betätigt.«
Neeve wußte, worum sie noch bitten mußte, und hoffte inständig, daß es nicht lächerlich wirkte. »Ich frage mich…« Die
Bezirksanwältin, Myles und Jack warteten. Sie setzte noch einmal an. »Ich frage mich, ob es möglich wäre, mit der Frau zu
sprechen, die Ethels Leiche gefunden hat. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, daß ich mit ihr reden sollte.« Sie
spürte einen Kloß im Hals und schluckte leer, während die anderen sie anblickten.
»Mrs. Conway hat eine vollständige Aussage gemacht«, erwiderte Myra Bradley langsam. »Sie können sie sich ansehen,
wenn Sie möchten.«
»Ich würde lieber mit ihr sprechen.« Laßt sie bloß nicht nach
dem Grund fragen, dachte Neeve verzweifelt. »Ich muß es einfach.«
»Dank meiner Tochter konnte Ethel Lambston identifiziert
werden«, sagte Myles. »Wenn sie mit der Zeugin sprechen
möchte, sollte man es ihr meiner Meinung nach erlauben.«
Er hatte die Tür bereits geöffnet, und Myra Bradley zitterte im
kalten Aprilwind. »Man könnte glauben, wir seien noch im
März«, sagte sie. »Hören Sie, ich habe absolut nichts einzuwenden. Wir haben zwar den Eindruck, daß Mrs. Conway uns alles
gesagt hat, was sie weiß, aber vielleicht kommt noch etwas zum
Vorschein. Einen Augenblick, bitte. Ich werde anrufen, um zu
sehen, ob sie zu Hause ist.«
Kurz darauf kam sie zurück. »Mrs. Conway ist da und gerne
bereit, mit Ihnen zu sprechen. Hier ist die Adresse und eine Beschreibung, wie Sie hinfinden.« Sie tauschte mit Myles ein Lächeln, das Lächeln zweier professioneller Polizeibeamten. »Sollte sie sich erinnern,
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