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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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Anneliese die Kinder nicht anschrie, wenn Fritzl auf Reisen war und nur die Erinnerung an seine Schläge zurückgelassen hatte. Ein Moment des Friedens, der kleine Hunger war gestillt, das Gefühl der Sättigung steigt zu Kopf.
    Wieder Babygeschrei. Bestimmt war der Keller langsam aufgestiegen und näherte sich der Erdoberfläche. Er würde bald den Rasen anheben, direkt an der Hausmauer sprießen wie ein Pilz. Er würde sogar den Boden des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks durchbrechen und sich mitten im Wohnzimmer niederlassen. Sie müsste nur an die Wand klopfen – da wäre bestimmt ein Bruder oder eine Schwester, die den Keller im Handumdrehen aufbrechen könnten.
    Sie ging zur Tür des Bunkers. Der Lärm war gellend, sie sah Petra auf dem nackten Boden liegen, eingewickelt in ein Handtuch und Lappen. Eine Halluzination wie alles andere auch. Oft meinte sie, Thomas auf dem Kopfpolster schlafen zu sehen, wenn sie erwachte. Sie mühte sich, der Versuchung zu widerstehen, ihm durchs Haar zu streichen, damit sie nicht sehen musste, wie er gleich wieder verschwand.
    Sie bekam oft Besuch. Der Keller wurde zum Kaffeehaus. Durstige Gäste am Tresen, diejenigen an den Tischen kämpften mit ihrem Schnitzel und winkten ihr mit ausladenden Handbewegungen zu, auf dass sie ihnen endlich ihr Bier oder ihren Wurstteller brachte und ihren Brotkorb auffüllte. Man musste zusehen wie durch ein Schaufenster. Es gab keine Fensterscheibe, aber wenn die Hand sich vorwagte, schlossen sich gleich wieder die Wände.
    Sie widerstand dem Wahn. Das Kind fing an zu schreien. Halluzinationen, bei denen sie Geräusche aus einem Mund kommen hörte, waren selten. Meist musste sie von den Lippen lesen. Doch sie verband die Bewegung mit dem Wort, sah Ausrufe, Küsse, Lachen. Es kam vor, dass sie Petra vor deren Geburt sah. Ein Kind mit zu rundlichem Gesicht, um ein Mensch zu sein, ein Kümmerling, nur Haut bedeckte den Schädel, abwechselnd Bub und Mädchen, meist jedoch ein Bub mit lächerlich kleinem Penis.
    Ja, das war wirklich ihr Abbild. Nachdem er Petra nun mitgenommen hatte, würde sie sie von nun an besuchen. Ein Avatar, der sich mit der Zeit entwickeln würde. In ein paar Monaten würde Angelika sie plappern hören, sie würde auf ihren kleinen, unsicheren Beinchen gehen. Eines Tages würde sie rennen, auf sie zulaufen, damit Angelika sie in die Arme nahm. Sie müsste zurückweichen, dürfte sie nicht berühren, damit sie sich nicht auflöste.
    Sie würde groß werden, würde dann mit ihrem Kavalier kommen, einem stämmigen Burschen mit grobschlächtigen Zügen, unmännlichem, kleinem Glied, einem Halbstarken mit ölverschmierten Händen. Angelika würde darunter leiden, nicht mit ihr kommunizieren zu können, um sie zu warnen. Am Tag ihrer Hochzeit würde Petra im weißen Kleid einen Luftsprung machen, nach jeder Geburt würde sie herunterkommen und ihr stolz das Kind zeigen, das sie gerade bekommen hatte.
    Wenn Fritzl tot wäre, würde Petra ihre Mutter besuchen. Ein paar Wochen Siechtum, der Hungerstod, wenn sie die letzten schimmligen Lebensmittel aufgegessen hätte. Petra wäre dann ein schönes Mädchen im besten Alter, sie würde mit einem Korb voller Essen kommen. Angelika würde warten, bis sie nicht mehr konnte, bevor sie eine Erdbeere, einen Kuchen naschte, ein Stück Brot abbrach, das sie ihr hinhielt wie eine Stange.
    Petra würde im letzten Moment zurückkommen und sich übers Bett beugen, um Angelika zu küssen. Ihre Lippen würden sich ihrem Gesicht nähern, das Geräusch ihres Atems, der frische Geruch ihres Mundes, des blühenden Lebens mit rosa-weißem Lächeln. Angelika würde sogar meinen, den Duft der Sonne auf ihrer gebräunten Haut zu riechen. In dem Moment, wenn Petra ihr den Mund auf die glühende Stirn drückte, würde sie verschwinden, aber dann wäre Angelika bereits tot.

Petra krümmte sich auf dem Boden. Verkrampfte Hände, verzweifelte Schreie, weil sie nicht kräftig genug waren, um die ganze Erde zu alarmieren. Und die Hausgemeinschaft, dieses entsetzliche Muster an alles umfassender Gleichgültigkeit, mit Bewohnern, die zu laut redeten, den Fernseher, das Radio brüllend laut stellten, husteten, trällerten, ja sogar mit dem Fuß auf den Boden klopften, um sie nicht hören zu müssen.
    Auf einmal schlief Petra ein, als hätte sie alle Schreie verbraucht, die sie mit auf den Lebensweg bekommen hatte. Ein kleines weißes Bündel, zwei Schritte von der Tür entfernt. Angelika wagte es, sich zu

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