Claustria (German Edition)
In seltenen Momenten gestand sie ihren Ohren das Recht des Zweifels zu. Noch seltener erlaubte sie sich, genau auf die Geräusche aus Fritzls Keller zu horchen.
Zwei Tage nach der Geburt sah er Petra.
Ehre sei dem Vater.
,,Sie ist nicht mal hässlich.“
Mit gleichgültiger Miene hielt er sie im Arm wie ein Vorarbeiter, der am Ende des Fließbands das Produkt prüft.
,,Solange du Milch hast, bleibt sie hier.“
Angelika hatte von ganz seltenen Fällen gehört, in denen eine Mutter ihr Kind bis zu acht Jahren stillen konnte. Bis dahin wäre sie draußen. Man kann einen Menschen nicht ewig einsperren. Sobald sie vor Vereinsamung verkümmern würde, müsste er sie herausholen. Er könnte sie ebenso gut oben schwängern und seinen Plan, ihr genauso viele Kinder zu machen wie Anneliese, in die Tat umsetzen. Oben wie unten wäre sie seine Gefangene. Bei einem Fluchtversuch würde er sie wieder einfangen und sie ohne ihre Tochter ins Verlies sperren.
Zum Glück schlief Petra seit der ersten Woche durch. Ein schläfriges, friedliches Kind, und wenn es launisch war, konnte man es mit einem Streicheln beruhigen. Als Petra ein Jahr alt war, versiegte Angelikas Milch vollends. Sie ernährte ihre Tochter heimlich mit den Lebensmitteln, die Fritzl zum Mästen der Milchkuh brachte, die sie geworden war.
Geduldig schnitt sie Fleisch mit einem ungefährlichen Plastikmesser klein, mit dem der umsichtige Fritzl den Keller ausgestattet hatte, oder mit einem Kartoffelschäler mit stumpfer Stahlklinge, den er ihr bewilligt hatte, nachdem er es sattgehabt hatte, immer nur Schälkartoffeln essen zu müssen. Sie zerdrückte Gemüse in einem Glas, mischte alles mit Joghurt und fütterte Petra mit dem Löffel.
Schon bald merkte Fritzl, dass sie keine Milch mehr hatte.
,,Deine Brüste sind trocken wie Zunder.“
Sie versuchte zu lachen.
,,Sie trinkt alles.“
,,Du willst mich wohl verarschen!“
Angelika lag nackt auf dem Bett, Fritzl mit aufgerichtetem Glied, das er in sie einführen wollte. Spuren von Gewalt, zwei Blutergüsse an der Brust, die erst nach zwei Wochen wieder abklingen sollten.
,,Ich bringe sie hinauf.“
Brutale Penetration. Angelika beherrschte sich, nicht zu schreien, aber er machte schimpfend weiter.
Er ging ohne Kind.
Eine Woche darauf umschlang er Petra fest.
,,Wenn du wieder oben bist, kriegst du sie zurück.“
Entgeistert sah Angelika ihn an.
,,Wenn du sie wiedersiehst, ist sie vielleicht schon Großmutter.“
Er verließ den Raum.
Reglos blieb Angelika stehen. Angesichts ihres Unglücks schüttete ihr Gehirn genügend Endorphine aus, damit sie keinen Schmerz mehr spürte. Eine leichte Euphorie, ein Schicksal unter ihrer Würde, das schwarz und fern verlief. Eine Art Bühnenstück, das sie gleichgültig und betäubt verfolgte.
Sie hörte das Kind weinen, hörte, wie sich die Stahlbetontür schloss. Das Weinen dauerte an, im Dreiertakt; zwischen dem erstickten Schluchzen gellende Schreie, die Glas zum Bersten bringen konnten. Angelika hörte nicht hin – gegen dieses Geräusch konnte sie nichts ausrichten. Man konnte ein Kind nicht von ferne wiegen.
Sie legte sich aufs Bett. Kein Schlaf. Starre, Kontrollverlust, wirre Gedanken im Kopf. Ihr Verstand schien auf einem bräunlichen Brei zu treiben wie eine Kugel.
Die Stimme des Kindes und eigenartige Schläge als Hintergrundgeräusch. Die Minuten verfließen, drei Stunden vergehen. In der absoluten Stille des Kellers steht Angelika wieder auf. Sie hatte nur den Presslufthammer gehört, der seit einer Woche immer wieder Löcher in die Stadt bohrt.
Noch ein Ei im Kühlschrank. Es brutzelt in der Pfanne. Sie legt zwei Scheiben Zwieback übereinander, damit sie nicht brechen, wenn sie sie mit Butter bestreicht. Sie wärmt einen Rest Reis vom Vortag im Wasserbad auf. Ein Steingutteller, verziert mit einem blauen Hirsch, den Fritzl zusammen mit drei Gläsern letzten Monat heruntergebracht hatte. Anneliese hatte die Kinder beschuldigt, die Gläser zerschlagen und die Scherben weggeworfen zu haben, damit sie keine Prügel bekämen. Als sie gemerkt hatte, dass auch ein Teller fehlte, hatte sie zugeschlagen.
Ein beruhigender Hirsch, ein vertrautes Tier, das Angelika ihre ganze Kindheit über mit Kohl, mit Fleisch, mit Nudeln bedeckt hatte. Er leistete ihr nun Gesellschaft in ihrem Exil. Wenn sie sich auf ihre Mahlzeit konzentrierte, konnte sie sich vorstellen, oben in der Wohnung zu sein, in einem Augenblick der Ruhe, in den seltenen Momenten, wenn
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