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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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Körper zermalmen könnte, weil sie dachte, auf einem Felsen aufzuschlagen.
    Besser, sie schlief nicht. Petra würde verschwinden, wenn sie nicht mehr bei Bewusstsein wäre. Und was die Träume anging – wenn Petra nicht mehr bei ihr wäre, hätte sie genügend Zeit, von ihr zu träumen. Sie will sie fest drücken, den Abdruck ihres Körpers spüren, hofft, dass ihre Tochter sie durchdringt, stellt sich vor, dass sie vielleicht die Grenze der Haut, der Gebärmutter überwinden und sich wieder in den Bauch hineinschmiegen könnte, aus dem sie gekommen war.

,,Wirst du dich an mich erinnern?“
    ,,Im Sommer werden wir uns wiedersehen, dann gehen wir Eis essen.“
    ,,Du wirst dich an meinem Hals festhalten, und wir schwimmen zusammen im Pool.“
    ,,Ich werde für dich einen richtigen Vater finden.“
    ,,Ich bringe dir bei, wie man sich schminkt.“
    ,,Wenn du groß bist, sehen wir aus wie Freundinnen.“
    ,,Du wirst schön und glücklich sein.“
    Sie sprach mit Petra. Sie versuchte deren Gedächtnis mit ihren Worten, ihrer Stimme zu füllen, ein inneres Bild zu zeichnen, kleine tönende Punkte, eine Mama aus Worten, die Petra mit nach oben nehmen würde. Sie hätte in Petra genügend Ratschläge und Schelte gespeichert, um an ihrer Erziehung teilzuhaben.
    ,,Du darfst im Unterricht nicht schwatzen.“
    ,,Statt zu spielen, solltest du besser lernen.“
    ,,Du weißt, dass man erst nach rechts und nach links schauen muss, bevor man die Straße überquert.“
    ,,Hör auf zu heulen, du bist ein großes Mädchen!“
    ,,Ich liebe dich, aber hör auf, dich dumm zu stellen!“
    ,,Also wirklich! Was glaubst du, wo du bist?“
    ,,Ich habe die Nase voll von deinen Ausdrücken!“
    ,,Wer zu viel isst, wird ein dickes Fass.“
    ,,Also, dieser Bursche gefällt mir überhaupt nicht. Tu mir den Gefallen und mach Schluss mit ihm.“
    ,,Ich will, dass du einen Schulabschluss machst. Ich habe zu sehr darunter gelitten, dass ich keine Ausbildung hatte.“
    ,,Geh spazieren und häng bei diesem schönen Wetter nicht zu Hause herum.“
    Der Ton wurde lauter. Ein Anschiss ließ die Wände beben. Angelika ertrug den Gedanken nicht, dass Petra ihre Jugend vergeudete und herumbummelte. Sie verlangte von ihr ein geradliniges, geplantes, aufsteigendes Leben.
    ,,Weißt du, das Leben ist lang. Ich will nicht, dass du bis zum Ende den Preis für deine Fehler bezahlen musst. Du hast die Chance, das allerklügste und schönste Mädchen der Schule zu sein. So wollte ich dich, so habe ich dich gemacht. Kommt nicht infrage, dass du alles kaputt machst, indem du immer nur abwartest!“
    ,,Nein, du tust nicht, was du willst! Ich lasse dir jede Freiheit, aber nur unter der Bedingung, dass du nicht immer deinen Kopf durchsetzt. Also, du schwörst mir jetzt, dass du nie wieder damit anfängst, und wir vertragen uns wieder.“
    Sie wurde noch lauter. Wenn sie schrie, konnte sie ihre Tochter noch so streicheln, Petra fing irgendwann an zu weinen.
    ,,Mama liebt dich, meine kleine Fee. Wenn Mama schreit, dann doch nur, weil du ihr Sorgen bereitest. Mütter schimpfen, weil sie ihre Töchter lieben. Ich liebe dich mehr, als alle anderen Mütter lieben. Umarme mich, umarme mich fest. Niemand hat einander je so geliebt wie wir. Wir sind wie zwei Schwestern, und dazu bin ich deine Mutter.“
    Angelika tauschte ihre Worte gegen einen Abzählreim. Lieder, eins um das andere, Melodien ohne Text, Opernarien mit falschen Noten. Sie ging umher und stampfte bei jedem Schritt auf, drehte sich, tanzte, machte kleine Sprünge, das verwirrte Kind im Arm, und sang lauthals das gesamte deutschsprachige Repertoire von Julio Iglesias.
    Weder Tag noch Nacht. Das trübe Licht der Glühbirnen. Eine unendliche Gesangstournee, ein steter Tanz, ein sich drehender Derwisch, den der Schwindel packte und im Zimmer das Bett suchte, um sich fallen zu lassen. Augenblicke der Starre, dann wickelte sie, fütterte sie Petra mit mechanischen Handgriffen und legte sie in die Kiste, die sie hin- und herkippte, um sie zu wiegen.
    Sie ging weg, vergaß Petra, setzte sich in die Küche, starrte ins Leere oder auf das blonde Baby auf der Milchpackung im Bord über der Spüle. Petra war in die Kiste eingeschlossen wie ein Geist in der Flasche. Wenn Petra nicht mehr hier wäre, müsste Angelika nur das Ohr an den Deckel drücken, um sie mit ihrer hellen Stimme lallen zu hören. Bald würde aus ihrem Gebrabbel ein Plappern werden. Sollte die Stimme der Mutter die Kiste nicht durchdringen, würde sie ihr

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